16.I.97
- 2 -
1.°
ich habe eins durch den Tod verloren - lernte ich sie auf die Frage: "Wo
wird man jeden Tag dümmer?" zu antworten den Markt und die Nummer, wo
ich damals wohnte, und sie thaten das mit Brevour. Jetzt werde ich jeden
Tag dümmer in Havnegade, obwohl ich mehr geschimpft werde als gelobt.
Sonderbar, ich hatte Sie mir nach „Anatol“ ganz anders vorgestellt,
leichtsinnig, frivol, leichtlebig. Sie sind es kaum je gewesen, glaub
ich jetzt. Sie sind ja sehr, sehr ernst, für einen Wiener sogar un-
hatte bleibe
glaublich ernst.
Ich habe eine demütige Bitte an Sie. Lesen Sie einmal mein fürchter-
lich dickes Buch über Shakespeare - in dieser grässlichen deutschen
Uebersetzung, wo alle Musik der Sprache fort ist und der Sinn nur an-
nähernd wiedergegeben und sagen Sie zum Vergelt mir Ihre Meinung darüber.
Ich habe dort ein Stück Psychologie kühner Art versucht und die ganze
deutsche Kritik hat sich mir überlegen gefühlt; ich verachte aber diese
Kritik mehr als sie mich verachtet, und das heisst etwas.
Ich war sehr glücklich, heute von Herrn Beer Hofmann Brief zu
bekommen, werde ihm sehr schnell schreiben, liebe ihn sehr. Sie und er
und Goldmann sind staunenswerth, unerhört, Freunde. Dass es noch so etwas
gibt! Was ich derartiges hatte ist längst todt, und ich glaube nicht
mehr daran.
Georg Tandes
(etwa 13. Juli 1897)
Lieber und verehrter Herr Schnitzler!
Ich kann leider nicht mit eigener Hand Ihren liebenswürdigen Brief
beantworten. Seit Ende April bin ich krank, habe eine heftige Aderent-
zündung, die mich zwingt, ganz still zu liegen und habe im Juni eine
schwere Lungenentzündung durchgemacht, die mich dem Tode nah brachte.
Jetzt ist die Lunge einigermassen heil, doch in der eigentlichen Krank-
heit ist noch keine Konvalescenz eingetreten. Ich werde voraussichtlich
noch mehr als einen Monat im Bette bleiben müssen. Mein ganzer Sommer
ist dahin. Ich habe grosse Schmerzen ausgestanden und bin noch sehr
leidend. Es freut mich sehr, dass Sie etwas in meinem Buche über Shakes-
peare gefunden haben. Ich lese in dieser Zeit die Korrekturbogen der
zweiten deutschen Ausgabe und bin über die fürchterliche Sprache ganz
erschreckt. Es wimmelt von den plumpsten Missverständnissen meines dänisschen
Textes; ich schreibe um und verbessere ins Unendliche.
Ich bitte Sie Ihre Freunde sehr herzlich von mir zu grüssen. Herr
Goldmann verstummte mir gegenüber plötzlich. Sie sind mir aber alle drei
gleich lieb.
Ihr ganz ergebener
Georg Brandes
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1.°
ich habe eins durch den Tod verloren - lernte ich sie auf die Frage: "Wo
wird man jeden Tag dümmer?" zu antworten den Markt und die Nummer, wo
ich damals wohnte, und sie thaten das mit Brevour. Jetzt werde ich jeden
Tag dümmer in Havnegade, obwohl ich mehr geschimpft werde als gelobt.
Sonderbar, ich hatte Sie mir nach „Anatol“ ganz anders vorgestellt,
leichtsinnig, frivol, leichtlebig. Sie sind es kaum je gewesen, glaub
ich jetzt. Sie sind ja sehr, sehr ernst, für einen Wiener sogar un-
hatte bleibe
glaublich ernst.
Ich habe eine demütige Bitte an Sie. Lesen Sie einmal mein fürchter-
lich dickes Buch über Shakespeare - in dieser grässlichen deutschen
Uebersetzung, wo alle Musik der Sprache fort ist und der Sinn nur an-
nähernd wiedergegeben und sagen Sie zum Vergelt mir Ihre Meinung darüber.
Ich habe dort ein Stück Psychologie kühner Art versucht und die ganze
deutsche Kritik hat sich mir überlegen gefühlt; ich verachte aber diese
Kritik mehr als sie mich verachtet, und das heisst etwas.
Ich war sehr glücklich, heute von Herrn Beer Hofmann Brief zu
bekommen, werde ihm sehr schnell schreiben, liebe ihn sehr. Sie und er
und Goldmann sind staunenswerth, unerhört, Freunde. Dass es noch so etwas
gibt! Was ich derartiges hatte ist längst todt, und ich glaube nicht
mehr daran.
Georg Tandes
(etwa 13. Juli 1897)
Lieber und verehrter Herr Schnitzler!
Ich kann leider nicht mit eigener Hand Ihren liebenswürdigen Brief
beantworten. Seit Ende April bin ich krank, habe eine heftige Aderent-
zündung, die mich zwingt, ganz still zu liegen und habe im Juni eine
schwere Lungenentzündung durchgemacht, die mich dem Tode nah brachte.
Jetzt ist die Lunge einigermassen heil, doch in der eigentlichen Krank-
heit ist noch keine Konvalescenz eingetreten. Ich werde voraussichtlich
noch mehr als einen Monat im Bette bleiben müssen. Mein ganzer Sommer
ist dahin. Ich habe grosse Schmerzen ausgestanden und bin noch sehr
leidend. Es freut mich sehr, dass Sie etwas in meinem Buche über Shakes-
peare gefunden haben. Ich lese in dieser Zeit die Korrekturbogen der
zweiten deutschen Ausgabe und bin über die fürchterliche Sprache ganz
erschreckt. Es wimmelt von den plumpsten Missverständnissen meines dänisschen
Textes; ich schreibe um und verbessere ins Unendliche.
Ich bitte Sie Ihre Freunde sehr herzlich von mir zu grüssen. Herr
Goldmann verstummte mir gegenüber plötzlich. Sie sind mir aber alle drei
gleich lieb.
Ihr ganz ergebener
Georg Brandes