Nr. 24168
Wien, Freitag
Als Beispiel einer komplizierten
Schaffensart
Der Einfall: Eine Braut will sich mit ihrem Lieb¬
haber umbringen, er stirbt, sie verliert im letzten Augen
blick den Mut, flieht, vergißt den Schleier, und muß, d
sie zu Hause erwartet wird, nochmals die Stiege hinauf,
um den Schleier aus dem Zimmer des Toten zu holen.
Noch ist alles unpersönlich, der Einfall ist vollkommen
nüchtern. Ein Mann, ein Weib, Selbstmordversuch, Feigheit,
Angst, Schauer.
Eine diesen Einfall behandelnde novellette wird be¬
gonnen und nach kurzer Zeit weggelegt, weil der Einfall
den Verfasser selbst nicht interessiert.
Der Entschluß, eine Pantomine zu schreiben, veranlaßt
zur Durchsicht und Untersuchung bereitliegender Pläne und
Anfänge.
Der Schleier=Stoff scheint sich zu eignen, die Panto
mime wird entworfen.
Einteilung in drei Akte, mehr verstandesmäßig als
intuitiv.
Die Figuren streben danach, sich zu individualisieren
Der Liebhaber ist ein schwärmerischer Jüngling; heitere
Freunde und Freundinnen, ein Diener gesellen sich hinzu
Das Mädchen ist verliebt, unsicher, feig, mutig, ge-
heimnisvoll.
Eltern und Freundinnen gesellen sich zu ihr
Der Bräutigam wird als Kontrastfigur entworfen.
Die Pantomime wird vollendet und bleibt liegen, weil
sie der Eigenart, Lebendigkeit und Intensität entbehrt.
Eine Novelle, die später verfaßt wird, „Die Toten
Schweigen“, enthält eine Situation, die an das Schleier=Sujet
gemahnt: der tote Liebhaber wird von der Geliebten feig
im Stich gelassen.
Von dieser Novelle erhält der Schleier=Stoff offenbar
neue Kraft
Im Gespräch mit einem Freunde werden beide Stoffe
durchgesprochen, durchleuchtet.
Bemerkung des Freundes, daß es ihn auch gelüstete
diesen Stoff auszuarbeiten.
Der Entwurj wird neuerdings hervorgeholt, die Absicht
entsteht, ein Kostümstück daraus zu gestalten, und zwar wird
als Umwelt das Wien vom Anfang des neunzehnten Jahr¬
hunderts gewählt, zu welchem Entschluß weniger eine innere
Notwendigkeit und eine wirkliche Beziehung zwischen Figuren
und Stoff einerseits und Zeit und Ort anderseits als eine
gewisse Neigung leitet, daß sich die Gestalten gerade inner¬
halb dieser Atmosphäre ausleben möchten.
Der Liebhaber wird zum verabschiedeten, etwas ver¬
lumpten österreichischen Offizier
Die Geliebte ist eine Wirtstochter.
Der Bräutigam ein griechischer Bankier
Die Episodenfiguren treten zum Teil deutlicher hervor
Noch immer handelt es sich im wesentlichen um den
Einfall, um verstandesmäßige Weiterführung von Si¬
tuationen.
Noch nicht zeigen sich Gestalten, sondern nur eine höhere
Form von Figuren, wie sie sich aus Typen zu entwickeln
pflegen, wenn sich der durch den Einfall lebhafter angeregte
Geist intensiver mit ihnen beschäftigt.
Das Stück wird nach dem neuen Plan bis zur Mitte
des zweiten Aktes geführt, und hier ereignet sich folgendes:
die eine der Figuren scheint in geheimnisvoller Weise ihre
Maske abzuwerfen, oder besser: die intuitive Gewalt des
Autors (was hier keine künstlerische Wertung, sondern nur
den psychologischen Vorgang bedeuten soll) macht, daß sich
die betreffende Figur zur Gestalt emporspricht, emporhandelt,
und von diesem Augenblick an, auch den Gesetzen menschlicher
Wahrheit untertan, sich als das zu erkennen gibt, was sie
eigentlich ist, als einen Fürsten aus der Renaissance
39
Neue Freie Presse
25. Dezember 1931
in der Opferbereitschaft ihrer Jugend und zu nahe noch den
Innere Tendenz zur Vereinfachung, äußere Rücksicht
Schulbänken, den Kahnfahrten, dem abendlichen Schlendern,
auf die Forderungen des heutigen Theaters, drängen zu einer
dem Frieden, um wirklich ahnen zu lassen, wohin es ging.
knapperen Führung.
Auf die Verwandlungen wird Verzicht geleistet, die
Der junge Gerhard Jäger war einer der ersten, die sich
meldeten. Der stille, grüblerische Mensch war wie verwandelt.
Handlung in eine Nacht gedrängt.
Andere Figuren gewinnen an Lebendigkeit. Gegen¬
Er schien durchleuchtet zu sein von einem inneren Glühen, das
weit entfernt war vom Pathos kriegsbegeisterter Pastoren und
sätzlich zu dem Herzog entwickelt sich der Dichter.
Professoren. Er und seine Kameraden sahen im Kriege mehr
Die Hauptfigur bleibt am längsten schemenhaft, doch
wohnt ihr von Urbeginn eine Neigung inne, sich als ein als Kampi und Verteidigung; in sahen in ihm den großen
Unbewußtes, Elementares, höchst Welchenhaftes in die Mitte Sturm, der die flachen Begriffe behaglicher Zweckexistenz weg¬
jegen und das greisenhaft gewordene Dasein verjüngen sollte.
des Kreises zu stellen.
Der aus der Handlung hervorgehende Gedanke: das
An einem Sonntag fuhren sie alle zusammen ab. Der
Weibgenie schwankt zwischen dem Mann der Tat und dem
Bahnhof war voll von gerührten und begeisterten Angehörigen.
Mann des Gedankens und müßte diesen beiden Prinzipien
Fest die ganze Stadt hatte sich eingefunden. Blumen steckten
in einem Manne vereinigt begegnen, um sich zur Möglichkeit
an allen Helmen, die Mündungen der Gewehre waren mit
der Treue aufzuschwingen — dieser Gedanke wird nun mit
frischem Laub geschmückt. Musik spielte und Rufe flogen hin
Bewußtsein und Willkür zur inneren Durchleuchtung des
und her. Im Augenblick, wo der Zug anfuhr, sah Gerhard
Ganzen ausgenützt
Jäger vor dem Fenster seines Abteiles plötzlich Annette. Sie
Diese Figur, bei aller Förderung durch Ueberlegung
winkte jemand in einem anderen Coupé nach. Er griff sie an
und Intuitionen entbehrt noch des wirklichen Lebens, bis
der Hand. „Annette —
durch einen Zufall — gerade im Sommer der betreffenden
Sie lachte und warf ihm den Rest ihrer Blumen zu.
Arbeit — dem Autor ein weibliches Individuum in den Weg
„bring’ mir etwas Schönes mit aus Paris!“
tritt, das in vieler Beziehung für die Figur lebendige Auf¬
Er nickte, aber er konnte nicht mehr antworten, denn der
schlüsse gibt. In Gehaben, Physiognomie, Geste und Blick
Zug fuhr schneller und brausender fluteten Gesang und
nähert sich die Figur immer mehr dem lebendigen In¬
Musik durch die Halle. Das weiße, wehende Sommerkleid
dividuum, wird dem Autor dadurch immer verständlicher und
des Mädchens war das letzte, was er mit hinausnahm —
hat damit endlich ihre Entwicklung zur Gestalt beschlossen.
In den ersten Monaten hörte Annette wenig von
Gerhard. Dann jedoch kamen immer häufiger Feldpostkarten
Copyright 1881 by Erich Maria Remarqua.
Rachbruch,
und Briefe. Sie wunderte sich etwas darüber, denn sie konnte
Auszug.
nicht begreifen, warum das plötzlich geschah. Vor allem aber
verstand sie nicht, weshalb alle diese Briefe, je mehr die
Sonderbare Schicksale.
Monate hingingen, immer stärker von Erinnerungen an ihre
gemeinsame Kindheit bewegt waren. Sie erwartete begeisterte
Schilderungen von schneidigen Attacken und war jedesmal
aufs neue enttäuscht, von Dingen zu hören, die sie kannte
Annette Stoll.
und die sie langweilten.
Von Erich Maria Remarque.
Gerhards Regiment geriet in die Kämpfe von Flandern
und erlitt furchtbare Verluste. Seine Eltern erhielten einige
Tage später nichts weiter von ihm als eine kurze Mitteilung,
daß er und siebenundzwanzig andere noch unverletzt seien von
zweihundert. Annette dagegen bekam einen langen Brief, in
dem Gerhard sie fast leidenschaftlich an einen Maimorgen und
an die weißen blühenden Kirschbäume hinter dem Kreuzgang
des Domes erinnerte. Sein Vater, der diesen Brief las,
schüttelte den Kopf. Er liebte die großen Begriffe und hätte
sich den Sohn gern heroischer gewünscht. Annette legte die
eng beschriebenen Seiten achselzuckend beiseite; sie konnte sich
an den Maimorgen nicht mehr erinnern.
Um so überraschter waren beide, als bald darauf bekannt
Annette Stoll wuchs in einer kleinen mitteldeutschen Uni-
versitätsstadt auf. Sie war ein frisches, blondes Mädchen, das
mit mäßigem Eifer die Schule besuchte, gern und viel lacht
und Konditoreien und Kinos liebte. Der Spielgefährte ihrer
Kindheit war der junge Gerhard Jäger, drei Jahre älter als
sie, schmal, hochaufgeschossen, mit einer Neigung zu Büchern
und grüblerischen Gesprächen.
Die beiden waren Nachbarskinder, deren Eltern freund¬
schaftlich miteinander verkehrten. So kam es, daß sie wie Ge¬
schwister zusammen aufwuchsen. Die Erlebnisse des einen
waren auch die Erlebnisse des andern. Die verwilderten
Gärten, die winkeligen Gassen, die glockenüberwehten Sonn¬
tage, die sommerlichen Wiesen, die Dämmerung, die Sterne,
der Duft und der atemlose, dunkle Zauber der Jugend; er wurde, daß Gerhard in der Flandernschlacht eine so außer¬
ordentliche Tapferkeit gezeigt hatte, daß er sofort dekoriert
war beiden gemeinsam.
und befördert worden war.
Später wurde das anders. Das Mädchen frühreif und
Einige Zeit später kam er auf Urlaub, schlank, schmal
hübsch, bekam die überlegene Sicherheit einer verwegenen
Sechsohnjährigen. Es glitt plötzlich aus dem vertrauten Garten und braun, ganz anders, als Annette es sich nach den Briefen
gedacht hatte. Neben dem redseligen Stolz seines Vaters
kindlichen Beieinanderseins in das Zwielicht erregender Ge¬
wirkte er doppelt ernst, ja manchmal ganz abwesend und
heimnisse. Der junge Gerhard Jäger, einst der ältere Freund
sonderbar düster. Als er das erstemal mit Annette—allein
und der Beschützer ihrer Kindertage, erschien ihr jetzt unfertig
zusammen war, nach einer wortkargen, seltsamen Stunde des
viel jünger als sie selbst und in seiner unschlüssigen Nach¬
Starrens und plötzlichen Aufflackerns, nahm er auf einmal
denklichkeit fast ein wenig lächerlich. Sie liebte die runden,
ihre Hände und fragte, ob sie heiraten wollten. Er blieb in
glatten Dinge des Lebens, und man konnte sich schon vor¬
einer sehr eindringlichen, schweigsamen Art dabei, auch als
stellen, wie ihr Dasein verlaufen würde: sicher, ruhig, reprä-
sentativ, mit einem geachteten Mann und gesunden Kindern man ihm sagte, sie seien doch noch zu jung. Er war gerade
Als Gerhard das erste Semester an der Universität neunzehn, Annette noch nicht siebzehn Jahre alt.
Rasche Heiraten und Kriegstrauungen waren damals
studierte, waren beide einander völlig fremd geworden.
Da kam der Krieg. Das Fieber der Begeisterung erfaßte nichts Ungewöhnliches; sie gehörten mit zur allgemeinen
Begeisterung. Annette hatte sich nach der ersten Ueberraschung
die kleine Stadt. Von einem Tag zum andern vertauschten die
schnell an den Gedanken gewöhnt; sie fand es interessant,
Primaner und die jungen Studenten ihre bunten Mützen mit
als erste ihrer Schulklasse zu heiraten; der junge, männ¬
der grauen Montur der Kriegsfreiwilligen. Sonderbar genug
liche Offizier, der aus dem schwärmerischen Gerhard ihrer
sahen ihre knabenhaften Gesichter unter den Helmrändern
hervor, ein wenig abgerückt schon, ernster, älter, aber schön | Kindheit geworden war, gefiel ihr — mehr brauchte es fast
„Ich bin nur so froh.
Das ist der Kanarienvogel. Sie springt auf, setzt sich
„Nun, dann geh' doch hinaus zum Vogel und sieh
nach, ob er gesund ist.
nicht, Mutti, daß er jetzt gesund wird?“ fragt sie jubelnd
Sowie sie gegangen ist, sehen die Eltern sich an und
Aber die Aufregung, in der das kleine, zarte Wesen
lächeln vor lauter innerem Glück. Der Vater aber sagt in
sich befunden hat, war so heftig, daß sie jetzt, wo die
aufwallendem Pankgefühl: „Es gibt kein glücklicheres Kind
Spannung weicht, in Tränen ausbricht.
in der ganzen Stadt.
(Deutsch von Marie Franzos.)
„Um Gottes willen, was ist dir?“
Das Stück wird neu entworfen, als fünfaktiges Drama,
mit hauptsächlich von Shakespeare Anleihen machender
technik.
ist weit — eilt er sogleich hinaus zu Meli, um zu hören, wie
es den Patenten geht. Sie zeigt sie ihm, einen nach dem / aber gleich wieder hin. „Wird er jetzt gesund? Glaubst du
andern. Er nimmt sie behutsam zwischen seine großen Hände,
er kennt sie alle, man merkt, daß er gut Freund mit ihnen
ist. Er wundert sich, wie er dazu gekommen ist, all dies
kleine Getier zu lieben. Heute bei der Arbeit hat er sich
einmal übers andere bei dem Gedanken ertappt, wie es
wohl dem Kanarienvogel gehen mag
Wenn Meli wüßte, was für eine bedeutende Rolle ihr
Krankenhaus spielt. Während es der Mutter die milden
Träume schenkt, erweckt es beim Vater Tätigkeitslust und
Erfindungsgabe. Sein Hirn arbeitet, um Mittel ausfindig
Geselligkeit in Krisenzeiten.
zu machen. Meli zu helfen. Es ist nie mehr stumpf und
müssen uns mit dem Gedanken eines Kompromisses
müßig.
Auf dem Nachhauseweg hat er eine Mausefalle erblicht
zwischen unseren Interessen und unseren
Die Soiree als A.-G.
die jemand auf die Straße geworfen hatte. Die hat er gleich
Pflichten vertraut machen. Ich beispielsweise habe meine
mitgenommen und sich gefragt, ob Meli sie gebrauchen kann.
kostspieligen Empfänge, Bälle, Diners durch einfache Zu¬
Die Pariser Geselligkeit uud die Krise.
sammenkunste in der Zeit von halb sieben bis halb zehn Uhr
Vielleicht kann sie als Bett im Spital dienen.
Von Geneviève Tabonis.
abends ersetzt, zu denen sich die beruflich tätigen Männer
Und Meli nimmt die Mausefalle in ihre Arme, geht
In ihrem entzückenden Palais auf der Esplanade des
einfinden können. dadurch entfällt die große Toilette, das
weg und versteckt sie in ihrem Vorratshaus, das sie sich
Invalides empfängt mich die Komtesse de Benoist d'Azy,
große Diner. An Stelle der Bälle habe ich im Cercle Inter¬
unter einem anderen großen Stein gegraben hat. Es ist sehr
Tochter des ehemaligen französischen Botschafters in Wien,
allié Soireen arrangiert, deren Kosten unter die
rührend und lehrreich, einen Blick in Melis Vorratshaus zu
des Marquis de Vogue. Ihrer unermüdlichen Tätigkeit ver=
Teilnehmer aufgeteilt werden, es ist das eine
werfen, diese kleinen, auf der Straße aufgesammelten Stroh¬
dankte Frankreich während des Krieges die Gründung einer
Art mondäner Syndikalismus, der es jedermann gestattet,
bunde zu sehen, aus denen sie ihre Betten verfertigt; diese
ganzen Anzahl vorbildlicher Privatspitäler. Nach Friedens¬
sich die Kosten solcher Empfänge zu verringern. Auf diese
winzigen Stoffläppchen, die ihr Verbandzeug bilden; diese
schluß arbeitete sie an der Gründung des Cercle Interallié
Weise ist es den d'Uzès, den Rohans, den Ségurs möglich,
kleinen Schlackenstückchen, auf denen sie ein wenig Vaselin,
und heute widmet sie ihre Energien unzähligen sozialen
Bälle zu geben, deren Kosten sich per Gast auf sechs Francs
ein wenig Pflaster gesammelt hat, ein wening Atzung für
Werken. Sie sieht das Leben, wie es ist: die Folgen der
belaufen.
Vögel und Mäuse.
Krise, die Frankreich nicht verschont. Wird das Gesellschafts¬
Da man aber vor jenen, die schließlich doch zu den
Als sie alle drei, Vater, Mutter und sie, beim Mittags¬
leben in Frankreich, das bisher allen revolutionären
Glücklichen der Welt zählen — denn alles ist relativ — der
tisch sitzen, kann Meli kaum einen einzigen Bissen hinunter¬
Stürmen trotzte, auch diese schweren Zeiten bestehen können?
Unglücklichen und Armen gedenken muß, wird bei den
würgen. Sie denkt an den Kanarienvogel, ihr Herz ist
Wird die französische Aristokratie in diesen Schicksalsstunden
Soupers, die ich in meinem Hause zwischen Mitternacht und
draußen bei dem Kranken. Vielleicht stirbt er jetzt, wo sie
den Mut wiederfinden, den sie in der Revolution von 1789
zwei Uhr morgens veranstalte, von meinem Haushofmeister
von ihm gegangen ist.
bewies?! Das sind die Fragen, um deren Beantwortung ich
jedem Gast eine Sparbüchse präsentiert werden, in
Wie furchtbar wäre es, wenn er sterben sollte, und wie
die er fünf Francs einzuwerfen hat. Dieses Geld-wird es
sie bitte.
würde die alte Frau in dem Milchladen leben können ohne
„Wir haben aufgehört, als Göttinnen über unsere
mir gestatten, alltäglich im Souterrain meines Hauses
ihren kleinen Vogel.
Güter, Schlösser, unsere Leute zu herrschen“, sagt die
fünszig Arbeitslosen ein Mittagbrot ver-
Melis Vater redet zu ihr; er verspricht, ihr etwas
„Komtesse“, „wir sind aufmerksame Geschäftsführerinnen
Grünes für die Vögel mitzubringen, und abends wird er so
abreichen zu lassen.“
geworden. Wir können es uns nicht mehr leisten, die
zeitig kommen, daß er ihr helfen kann, aus dieser Nause
Helene Vacaresco über die Pflichien der
Schwankungen der Börsenkurse, der Lebenskosten, überhaupt
falle einen richtigen Käfig zu machen.
die wirtschaftliche Krise zu ignorieren. Ob
Stellung.
Und die Mutter ermahnt sie, zu essen
wohl wir dieser Tatsache Rechnung tragen, müssen wir aber
Mademoiselle Hélène Vacaresco, in deren Salon
Aber im selben Augenblick, als Meli Messer und Gabel
auch unsere soziale Stellung wahren, schon
weil wir Kinder besitzen, Töchter zu verheiraten haben. Wir auch die Politiker verkehren, klagt mir ihr Leib;
zur Hand nimmt, hört sie von draufen klaren Vogelgesang
einen ganzen langen, perlenden Triller.
Wien, Freitag
Als Beispiel einer komplizierten
Schaffensart
Der Einfall: Eine Braut will sich mit ihrem Lieb¬
haber umbringen, er stirbt, sie verliert im letzten Augen
blick den Mut, flieht, vergißt den Schleier, und muß, d
sie zu Hause erwartet wird, nochmals die Stiege hinauf,
um den Schleier aus dem Zimmer des Toten zu holen.
Noch ist alles unpersönlich, der Einfall ist vollkommen
nüchtern. Ein Mann, ein Weib, Selbstmordversuch, Feigheit,
Angst, Schauer.
Eine diesen Einfall behandelnde novellette wird be¬
gonnen und nach kurzer Zeit weggelegt, weil der Einfall
den Verfasser selbst nicht interessiert.
Der Entschluß, eine Pantomine zu schreiben, veranlaßt
zur Durchsicht und Untersuchung bereitliegender Pläne und
Anfänge.
Der Schleier=Stoff scheint sich zu eignen, die Panto
mime wird entworfen.
Einteilung in drei Akte, mehr verstandesmäßig als
intuitiv.
Die Figuren streben danach, sich zu individualisieren
Der Liebhaber ist ein schwärmerischer Jüngling; heitere
Freunde und Freundinnen, ein Diener gesellen sich hinzu
Das Mädchen ist verliebt, unsicher, feig, mutig, ge-
heimnisvoll.
Eltern und Freundinnen gesellen sich zu ihr
Der Bräutigam wird als Kontrastfigur entworfen.
Die Pantomime wird vollendet und bleibt liegen, weil
sie der Eigenart, Lebendigkeit und Intensität entbehrt.
Eine Novelle, die später verfaßt wird, „Die Toten
Schweigen“, enthält eine Situation, die an das Schleier=Sujet
gemahnt: der tote Liebhaber wird von der Geliebten feig
im Stich gelassen.
Von dieser Novelle erhält der Schleier=Stoff offenbar
neue Kraft
Im Gespräch mit einem Freunde werden beide Stoffe
durchgesprochen, durchleuchtet.
Bemerkung des Freundes, daß es ihn auch gelüstete
diesen Stoff auszuarbeiten.
Der Entwurj wird neuerdings hervorgeholt, die Absicht
entsteht, ein Kostümstück daraus zu gestalten, und zwar wird
als Umwelt das Wien vom Anfang des neunzehnten Jahr¬
hunderts gewählt, zu welchem Entschluß weniger eine innere
Notwendigkeit und eine wirkliche Beziehung zwischen Figuren
und Stoff einerseits und Zeit und Ort anderseits als eine
gewisse Neigung leitet, daß sich die Gestalten gerade inner¬
halb dieser Atmosphäre ausleben möchten.
Der Liebhaber wird zum verabschiedeten, etwas ver¬
lumpten österreichischen Offizier
Die Geliebte ist eine Wirtstochter.
Der Bräutigam ein griechischer Bankier
Die Episodenfiguren treten zum Teil deutlicher hervor
Noch immer handelt es sich im wesentlichen um den
Einfall, um verstandesmäßige Weiterführung von Si¬
tuationen.
Noch nicht zeigen sich Gestalten, sondern nur eine höhere
Form von Figuren, wie sie sich aus Typen zu entwickeln
pflegen, wenn sich der durch den Einfall lebhafter angeregte
Geist intensiver mit ihnen beschäftigt.
Das Stück wird nach dem neuen Plan bis zur Mitte
des zweiten Aktes geführt, und hier ereignet sich folgendes:
die eine der Figuren scheint in geheimnisvoller Weise ihre
Maske abzuwerfen, oder besser: die intuitive Gewalt des
Autors (was hier keine künstlerische Wertung, sondern nur
den psychologischen Vorgang bedeuten soll) macht, daß sich
die betreffende Figur zur Gestalt emporspricht, emporhandelt,
und von diesem Augenblick an, auch den Gesetzen menschlicher
Wahrheit untertan, sich als das zu erkennen gibt, was sie
eigentlich ist, als einen Fürsten aus der Renaissance
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Neue Freie Presse
25. Dezember 1931
in der Opferbereitschaft ihrer Jugend und zu nahe noch den
Innere Tendenz zur Vereinfachung, äußere Rücksicht
Schulbänken, den Kahnfahrten, dem abendlichen Schlendern,
auf die Forderungen des heutigen Theaters, drängen zu einer
dem Frieden, um wirklich ahnen zu lassen, wohin es ging.
knapperen Führung.
Auf die Verwandlungen wird Verzicht geleistet, die
Der junge Gerhard Jäger war einer der ersten, die sich
meldeten. Der stille, grüblerische Mensch war wie verwandelt.
Handlung in eine Nacht gedrängt.
Andere Figuren gewinnen an Lebendigkeit. Gegen¬
Er schien durchleuchtet zu sein von einem inneren Glühen, das
weit entfernt war vom Pathos kriegsbegeisterter Pastoren und
sätzlich zu dem Herzog entwickelt sich der Dichter.
Professoren. Er und seine Kameraden sahen im Kriege mehr
Die Hauptfigur bleibt am längsten schemenhaft, doch
wohnt ihr von Urbeginn eine Neigung inne, sich als ein als Kampi und Verteidigung; in sahen in ihm den großen
Unbewußtes, Elementares, höchst Welchenhaftes in die Mitte Sturm, der die flachen Begriffe behaglicher Zweckexistenz weg¬
jegen und das greisenhaft gewordene Dasein verjüngen sollte.
des Kreises zu stellen.
Der aus der Handlung hervorgehende Gedanke: das
An einem Sonntag fuhren sie alle zusammen ab. Der
Weibgenie schwankt zwischen dem Mann der Tat und dem
Bahnhof war voll von gerührten und begeisterten Angehörigen.
Mann des Gedankens und müßte diesen beiden Prinzipien
Fest die ganze Stadt hatte sich eingefunden. Blumen steckten
in einem Manne vereinigt begegnen, um sich zur Möglichkeit
an allen Helmen, die Mündungen der Gewehre waren mit
der Treue aufzuschwingen — dieser Gedanke wird nun mit
frischem Laub geschmückt. Musik spielte und Rufe flogen hin
Bewußtsein und Willkür zur inneren Durchleuchtung des
und her. Im Augenblick, wo der Zug anfuhr, sah Gerhard
Ganzen ausgenützt
Jäger vor dem Fenster seines Abteiles plötzlich Annette. Sie
Diese Figur, bei aller Förderung durch Ueberlegung
winkte jemand in einem anderen Coupé nach. Er griff sie an
und Intuitionen entbehrt noch des wirklichen Lebens, bis
der Hand. „Annette —
durch einen Zufall — gerade im Sommer der betreffenden
Sie lachte und warf ihm den Rest ihrer Blumen zu.
Arbeit — dem Autor ein weibliches Individuum in den Weg
„bring’ mir etwas Schönes mit aus Paris!“
tritt, das in vieler Beziehung für die Figur lebendige Auf¬
Er nickte, aber er konnte nicht mehr antworten, denn der
schlüsse gibt. In Gehaben, Physiognomie, Geste und Blick
Zug fuhr schneller und brausender fluteten Gesang und
nähert sich die Figur immer mehr dem lebendigen In¬
Musik durch die Halle. Das weiße, wehende Sommerkleid
dividuum, wird dem Autor dadurch immer verständlicher und
des Mädchens war das letzte, was er mit hinausnahm —
hat damit endlich ihre Entwicklung zur Gestalt beschlossen.
In den ersten Monaten hörte Annette wenig von
Gerhard. Dann jedoch kamen immer häufiger Feldpostkarten
Copyright 1881 by Erich Maria Remarqua.
Rachbruch,
und Briefe. Sie wunderte sich etwas darüber, denn sie konnte
Auszug.
nicht begreifen, warum das plötzlich geschah. Vor allem aber
verstand sie nicht, weshalb alle diese Briefe, je mehr die
Sonderbare Schicksale.
Monate hingingen, immer stärker von Erinnerungen an ihre
gemeinsame Kindheit bewegt waren. Sie erwartete begeisterte
Schilderungen von schneidigen Attacken und war jedesmal
aufs neue enttäuscht, von Dingen zu hören, die sie kannte
Annette Stoll.
und die sie langweilten.
Von Erich Maria Remarque.
Gerhards Regiment geriet in die Kämpfe von Flandern
und erlitt furchtbare Verluste. Seine Eltern erhielten einige
Tage später nichts weiter von ihm als eine kurze Mitteilung,
daß er und siebenundzwanzig andere noch unverletzt seien von
zweihundert. Annette dagegen bekam einen langen Brief, in
dem Gerhard sie fast leidenschaftlich an einen Maimorgen und
an die weißen blühenden Kirschbäume hinter dem Kreuzgang
des Domes erinnerte. Sein Vater, der diesen Brief las,
schüttelte den Kopf. Er liebte die großen Begriffe und hätte
sich den Sohn gern heroischer gewünscht. Annette legte die
eng beschriebenen Seiten achselzuckend beiseite; sie konnte sich
an den Maimorgen nicht mehr erinnern.
Um so überraschter waren beide, als bald darauf bekannt
Annette Stoll wuchs in einer kleinen mitteldeutschen Uni-
versitätsstadt auf. Sie war ein frisches, blondes Mädchen, das
mit mäßigem Eifer die Schule besuchte, gern und viel lacht
und Konditoreien und Kinos liebte. Der Spielgefährte ihrer
Kindheit war der junge Gerhard Jäger, drei Jahre älter als
sie, schmal, hochaufgeschossen, mit einer Neigung zu Büchern
und grüblerischen Gesprächen.
Die beiden waren Nachbarskinder, deren Eltern freund¬
schaftlich miteinander verkehrten. So kam es, daß sie wie Ge¬
schwister zusammen aufwuchsen. Die Erlebnisse des einen
waren auch die Erlebnisse des andern. Die verwilderten
Gärten, die winkeligen Gassen, die glockenüberwehten Sonn¬
tage, die sommerlichen Wiesen, die Dämmerung, die Sterne,
der Duft und der atemlose, dunkle Zauber der Jugend; er wurde, daß Gerhard in der Flandernschlacht eine so außer¬
ordentliche Tapferkeit gezeigt hatte, daß er sofort dekoriert
war beiden gemeinsam.
und befördert worden war.
Später wurde das anders. Das Mädchen frühreif und
Einige Zeit später kam er auf Urlaub, schlank, schmal
hübsch, bekam die überlegene Sicherheit einer verwegenen
Sechsohnjährigen. Es glitt plötzlich aus dem vertrauten Garten und braun, ganz anders, als Annette es sich nach den Briefen
gedacht hatte. Neben dem redseligen Stolz seines Vaters
kindlichen Beieinanderseins in das Zwielicht erregender Ge¬
wirkte er doppelt ernst, ja manchmal ganz abwesend und
heimnisse. Der junge Gerhard Jäger, einst der ältere Freund
sonderbar düster. Als er das erstemal mit Annette—allein
und der Beschützer ihrer Kindertage, erschien ihr jetzt unfertig
zusammen war, nach einer wortkargen, seltsamen Stunde des
viel jünger als sie selbst und in seiner unschlüssigen Nach¬
Starrens und plötzlichen Aufflackerns, nahm er auf einmal
denklichkeit fast ein wenig lächerlich. Sie liebte die runden,
ihre Hände und fragte, ob sie heiraten wollten. Er blieb in
glatten Dinge des Lebens, und man konnte sich schon vor¬
einer sehr eindringlichen, schweigsamen Art dabei, auch als
stellen, wie ihr Dasein verlaufen würde: sicher, ruhig, reprä-
sentativ, mit einem geachteten Mann und gesunden Kindern man ihm sagte, sie seien doch noch zu jung. Er war gerade
Als Gerhard das erste Semester an der Universität neunzehn, Annette noch nicht siebzehn Jahre alt.
Rasche Heiraten und Kriegstrauungen waren damals
studierte, waren beide einander völlig fremd geworden.
Da kam der Krieg. Das Fieber der Begeisterung erfaßte nichts Ungewöhnliches; sie gehörten mit zur allgemeinen
Begeisterung. Annette hatte sich nach der ersten Ueberraschung
die kleine Stadt. Von einem Tag zum andern vertauschten die
schnell an den Gedanken gewöhnt; sie fand es interessant,
Primaner und die jungen Studenten ihre bunten Mützen mit
als erste ihrer Schulklasse zu heiraten; der junge, männ¬
der grauen Montur der Kriegsfreiwilligen. Sonderbar genug
liche Offizier, der aus dem schwärmerischen Gerhard ihrer
sahen ihre knabenhaften Gesichter unter den Helmrändern
hervor, ein wenig abgerückt schon, ernster, älter, aber schön | Kindheit geworden war, gefiel ihr — mehr brauchte es fast
„Ich bin nur so froh.
Das ist der Kanarienvogel. Sie springt auf, setzt sich
„Nun, dann geh' doch hinaus zum Vogel und sieh
nach, ob er gesund ist.
nicht, Mutti, daß er jetzt gesund wird?“ fragt sie jubelnd
Sowie sie gegangen ist, sehen die Eltern sich an und
Aber die Aufregung, in der das kleine, zarte Wesen
lächeln vor lauter innerem Glück. Der Vater aber sagt in
sich befunden hat, war so heftig, daß sie jetzt, wo die
aufwallendem Pankgefühl: „Es gibt kein glücklicheres Kind
Spannung weicht, in Tränen ausbricht.
in der ganzen Stadt.
(Deutsch von Marie Franzos.)
„Um Gottes willen, was ist dir?“
Das Stück wird neu entworfen, als fünfaktiges Drama,
mit hauptsächlich von Shakespeare Anleihen machender
technik.
ist weit — eilt er sogleich hinaus zu Meli, um zu hören, wie
es den Patenten geht. Sie zeigt sie ihm, einen nach dem / aber gleich wieder hin. „Wird er jetzt gesund? Glaubst du
andern. Er nimmt sie behutsam zwischen seine großen Hände,
er kennt sie alle, man merkt, daß er gut Freund mit ihnen
ist. Er wundert sich, wie er dazu gekommen ist, all dies
kleine Getier zu lieben. Heute bei der Arbeit hat er sich
einmal übers andere bei dem Gedanken ertappt, wie es
wohl dem Kanarienvogel gehen mag
Wenn Meli wüßte, was für eine bedeutende Rolle ihr
Krankenhaus spielt. Während es der Mutter die milden
Träume schenkt, erweckt es beim Vater Tätigkeitslust und
Erfindungsgabe. Sein Hirn arbeitet, um Mittel ausfindig
Geselligkeit in Krisenzeiten.
zu machen. Meli zu helfen. Es ist nie mehr stumpf und
müssen uns mit dem Gedanken eines Kompromisses
müßig.
Auf dem Nachhauseweg hat er eine Mausefalle erblicht
zwischen unseren Interessen und unseren
Die Soiree als A.-G.
die jemand auf die Straße geworfen hatte. Die hat er gleich
Pflichten vertraut machen. Ich beispielsweise habe meine
mitgenommen und sich gefragt, ob Meli sie gebrauchen kann.
kostspieligen Empfänge, Bälle, Diners durch einfache Zu¬
Die Pariser Geselligkeit uud die Krise.
sammenkunste in der Zeit von halb sieben bis halb zehn Uhr
Vielleicht kann sie als Bett im Spital dienen.
Von Geneviève Tabonis.
abends ersetzt, zu denen sich die beruflich tätigen Männer
Und Meli nimmt die Mausefalle in ihre Arme, geht
In ihrem entzückenden Palais auf der Esplanade des
einfinden können. dadurch entfällt die große Toilette, das
weg und versteckt sie in ihrem Vorratshaus, das sie sich
Invalides empfängt mich die Komtesse de Benoist d'Azy,
große Diner. An Stelle der Bälle habe ich im Cercle Inter¬
unter einem anderen großen Stein gegraben hat. Es ist sehr
Tochter des ehemaligen französischen Botschafters in Wien,
allié Soireen arrangiert, deren Kosten unter die
rührend und lehrreich, einen Blick in Melis Vorratshaus zu
des Marquis de Vogue. Ihrer unermüdlichen Tätigkeit ver=
Teilnehmer aufgeteilt werden, es ist das eine
werfen, diese kleinen, auf der Straße aufgesammelten Stroh¬
dankte Frankreich während des Krieges die Gründung einer
Art mondäner Syndikalismus, der es jedermann gestattet,
bunde zu sehen, aus denen sie ihre Betten verfertigt; diese
ganzen Anzahl vorbildlicher Privatspitäler. Nach Friedens¬
sich die Kosten solcher Empfänge zu verringern. Auf diese
winzigen Stoffläppchen, die ihr Verbandzeug bilden; diese
schluß arbeitete sie an der Gründung des Cercle Interallié
Weise ist es den d'Uzès, den Rohans, den Ségurs möglich,
kleinen Schlackenstückchen, auf denen sie ein wenig Vaselin,
und heute widmet sie ihre Energien unzähligen sozialen
Bälle zu geben, deren Kosten sich per Gast auf sechs Francs
ein wenig Pflaster gesammelt hat, ein wening Atzung für
Werken. Sie sieht das Leben, wie es ist: die Folgen der
belaufen.
Vögel und Mäuse.
Krise, die Frankreich nicht verschont. Wird das Gesellschafts¬
Da man aber vor jenen, die schließlich doch zu den
Als sie alle drei, Vater, Mutter und sie, beim Mittags¬
leben in Frankreich, das bisher allen revolutionären
Glücklichen der Welt zählen — denn alles ist relativ — der
tisch sitzen, kann Meli kaum einen einzigen Bissen hinunter¬
Stürmen trotzte, auch diese schweren Zeiten bestehen können?
Unglücklichen und Armen gedenken muß, wird bei den
würgen. Sie denkt an den Kanarienvogel, ihr Herz ist
Wird die französische Aristokratie in diesen Schicksalsstunden
Soupers, die ich in meinem Hause zwischen Mitternacht und
draußen bei dem Kranken. Vielleicht stirbt er jetzt, wo sie
den Mut wiederfinden, den sie in der Revolution von 1789
zwei Uhr morgens veranstalte, von meinem Haushofmeister
von ihm gegangen ist.
bewies?! Das sind die Fragen, um deren Beantwortung ich
jedem Gast eine Sparbüchse präsentiert werden, in
Wie furchtbar wäre es, wenn er sterben sollte, und wie
die er fünf Francs einzuwerfen hat. Dieses Geld-wird es
sie bitte.
würde die alte Frau in dem Milchladen leben können ohne
„Wir haben aufgehört, als Göttinnen über unsere
mir gestatten, alltäglich im Souterrain meines Hauses
ihren kleinen Vogel.
Güter, Schlösser, unsere Leute zu herrschen“, sagt die
fünszig Arbeitslosen ein Mittagbrot ver-
Melis Vater redet zu ihr; er verspricht, ihr etwas
„Komtesse“, „wir sind aufmerksame Geschäftsführerinnen
Grünes für die Vögel mitzubringen, und abends wird er so
abreichen zu lassen.“
geworden. Wir können es uns nicht mehr leisten, die
zeitig kommen, daß er ihr helfen kann, aus dieser Nause
Helene Vacaresco über die Pflichien der
Schwankungen der Börsenkurse, der Lebenskosten, überhaupt
falle einen richtigen Käfig zu machen.
die wirtschaftliche Krise zu ignorieren. Ob
Stellung.
Und die Mutter ermahnt sie, zu essen
wohl wir dieser Tatsache Rechnung tragen, müssen wir aber
Mademoiselle Hélène Vacaresco, in deren Salon
Aber im selben Augenblick, als Meli Messer und Gabel
auch unsere soziale Stellung wahren, schon
weil wir Kinder besitzen, Töchter zu verheiraten haben. Wir auch die Politiker verkehren, klagt mir ihr Leib;
zur Hand nimmt, hört sie von draufen klaren Vogelgesang
einen ganzen langen, perlenden Triller.