II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 36

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24. Das weite Land
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Skizzierung der 9. Sinfonie getragen; es ist nachgewiesen, daß
Beethoven schon 1793 dies Gedicht im großen Stile komponieren
wollte; aus dem Jahre 1812 finden sich Notierungen zu „Freude,
schöner Götterfunken“ die zwar zu einer Ouvertüre dienen soll¬
ten, also mit der „Neunten“ noch nichts zu schaffen haben, aber
doch unzweifelhaft den ganzen Gedankenkreis vorbereiten halfen,
der dann zur Zeit ihrer eigentlichen Ausarbeitung lebhaft ins Be¬
wußtsein trat. (Frimmel, „Beethoven“.) Auch dafür, daß Beetho¬
ven, der seit seiner völligen Ertaubung soFreudenarme, gerade diesen
Schillerschen Hymnus zu komponieren wünschte, finden sich man¬
cherlei Erklärungen. Vielleicht war ein Grund hierfür der, daß
Beethoven wenigstens in seiner Vorstellung einmal jene reine
Freude begrüßen wollte, die er seit Ausbildung seines Gebrechens
von der Wirklichkeit vergebens erhoffte. Der soeben zitierte Frim¬
mel findet in jenen Plänen auch einen psychologischen Zusammen¬
hang mit dem bekannten „Heiligenstädter Testament" Beethovens
aus dem Jahre 1802, in dem der Meister die Vorsehung anruft
um einen „reinen Tag der Freude“. Kretzschmar sagt sehr treffend,
daß Beethoven keinesfalls die Schillersche Ode ins Finale der
„Neunten“ gebracht haben würde, wenn zwischen ihr und den drei
ersten Sinfoniesätzen keine geistigen Beziehungen bestanden hätten,
und solche sieht er sogleich in der Idee des 1. Satzes (Allegro non
troppo un poco maestro. D=Moll, Zweiviertel=Takt) vorliegen, den
er als die Schilderung eines Zustandes äuffaßt, dem die Freude
fehlt. Den sehr ausführlichen und interessanten Begründungen
und Beleuchtungen Kretzschmars im einzelnen hier zu folgen, ver¬
bietet die Rücksicht auf den verfügbaren Raum; nur auf deren
Hauptpunkte stützen sich die folgenden Zeilen; im übrigen sei aber
auf diese Einführung in die „Neunte“ die auch wohl als Sonder¬
druck erschienen sein dürfte, nachdrücklichst hingewiesen, zumal die
Notenbeispiele das Verständnis des schwierigen Werkes wesentlich
erleichtern helfen. Der 2. Satz, in der Hauptsache ein im lauten
Tumult dahinjagendes Scherzo (Molto vivace, Dreiviertel=Takt)
nähert sich der Freude schon mehr. Das Adagio, durchweg in ent¬
zückenden Wohlklang getaucht, strebt einer höheren Art der Freude
zu. Den Himmelsklängen dieses Satzes folgen im unmittelbaren
Anschluß wilde Fanfaren, die in die chaotische Stimmung des
1. Satzes zurückführen; Celli und Bässe scheinen in den berühmten
Rezitativen Warnungsrufe auszusprechen; Themen aus allen deei
vorhergegangenen Sätzen erscheinen in den verschiedenen Instru¬
mentengruppen, werden aber sämtlich von den Bässen verworfen.
Da taucht in den Oboen etwas ganz Neues auf, es ist jenes den
ganzen letzten Satz beherrschende, volkstümliche Thema, mit dem
auch später der Chor seinen Hymnus intoniert. Die Bässe und
Celli geben ihre Zustimmung zu diesem Thema dadurch zu er¬
kennen, daß sie es sofort selbst ergreifen und zu einer breiten Me¬
lodie ausführen. Ein abermals drohendes Zurückfallen in die
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wählt, deren Stimmungscharakter ihm für den Abschluß des
Werkes, das über alles hinausragte, was bis dahin gehört worden
war, besonders geeignet erschien. Er läßt die Kreaturen jauchzen
um Küsse und um Reben, er tritt mit dem Cherub vor Gott, er
malt die vom Helden durchlaufene Bahn. An der Ausführung
dieser musikalischen Bilder sind Chor und Solisten in gleichem
Maße und oft in alternierender Weise beteiligt. Gehen schon in
den Refrains dieser Szene, bei den vom Chor immer wieder ein¬
setzenden Freudenrufen, die Wogen der Begeisterung hoch, so stei¬
gert sich in dem eigentlichen Schluß des Satzes bei den Worten
„Freude, Tochter aus Elysium!“ der Enthusiasmus zum völligen
Freudentaumel, dessen wegreißender Wirkung niemand zu wider¬
stehen vermag.
Beethovens „Neunte“ ist in Stettin in etwa anderthalb
Jahrzehnten nicht aufgeführt worden; der bevorstehenden Wieder¬
gabe darf man mit besonderer Spannung entgegensehen, da aus
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Anlaß der festlichen Veranstaltung die Vorbereitungen für diese
Aufführung mit außerordentlicher Sorgfalt gehandhabt worden
sind. Musikdirektor Wiemann hat mit dem Musikvereinschor
sehr fleißig und energisch studiert; als Orchester steht ihm eine
Musikerschar von 72 Mann, deren Kern unser gut geschultes
Stadttheaterorchester bildet, zur Verfügung, und für das Solo¬
quartett, das manche gefürchtete Klippe zu umsteuern hat, sind in
der Person von Frau Hafgren=Wag (Sopran),
Fräulein
Ober (Alt), Kammersänger Emil Pinks (Tenor) und dem
Leipziger Baritonisten Alfred Kase erstklassige Kräfte gemon¬
nen, so daß alle für eine restlose Interpretation des Werkes zu
stellenden Forderungen erfüllt sind.
Arthur Schnitzlers Tragikomödie
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(Uraufführung im Burgtheater am 14. Oktober.)
Von Ludwig Hirschfeld.
Wien, 14. Oktober 1911.
In Wien und Berlin, in München, in Prag und in noch
einigen deuischen Städten wird heute das neue Werk Arthur
Schnitzlers gleichzeitig gespielt. Man kann sagen, daß das ganze
literarische und intellektuelle deutsche Publikum an diesemAbend
erwartungsvoll gestimmt ist. Man bringt der Entwicklung unse¬
res ernstesten und' besten Dichters überall ein starkes Interesse
entgegen, so wunderlich diese Entwicklung manchesmal auch sein
mag. Ich weiß nicht, ob diese Tragikomödie „Das weite Land“
eine Entwicklung des Dramatikers Schnitzler bedeutet.
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scheint mir dieses Werk zurückzuführen zu früheren Dichtungen;
zum „Zwischenspiel“ und zum „Einsamen Weg“, dessen tiefgrün¬
dig nachdenkliche, kompliziert verinnerlichte Art sich hier wieder
findet. Wieder dieselbe resignierte geistige Grundstimmung, die¬
selben wunderlichen Menschen, für das Aergste und Erschütterndste,
der Tod und die Liebe bloß Anlässe zur Grübelei sind.
Der Herr von Sala, der Held des „Einsamen Wegs“ und