II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 356

I.
24. Das We I 16
box 297
Leiteiger Velkszeitung.
HE 10. 1919
Neues Theater (Das weite Land, Tragikomöbie vi
Artur Schnitter).
„Ich versichere Sie, nicht das geringst
hätt ich einzuwenden gegen eine Welt, in der die Liebe wirklich
nichts andres wäre als ein köstliches Spiel... Aber bann.
dann ehrlich, bitte! Ehrlich bis zur Orgie ... Das ließ ic
gelten. Aber dies Ineinander von Zurückhaltung und Frechheit,
von feiger Eifersucht und erlogenem Gleichmut — von rasender
Leidenschaft und leerer Lust, wie ich es hier sehe — das find ich
trübselig und — grauenhaft.
Der Freiheit, die sich hier
brüstet, der fehlt es am Glauben an sich selbst. Daher gelingt
ihr die heitere Miene nicht, die sie so gerne annehmen möchte..
darum grinst sie . .. wo sie lachen will.“ Mit diesen Worten
die bei der Aufführung gestrichen waren — charakterisiert der
brave Raisoneur des neuen Schnitzlerschen Stücks das Liebes¬
leben der Welt, in die uns der Dichter führt, und zugleich ihr
ganzes Leben — denn in diesem Leben ist von nichts anderm die
Rede, als von Liebschaften, Ehebrüchen, Hahnreischaften, Duellen,
Vergnügungen — das sind die Hauptsachen dieser Welt — daß die
Männer vielleicht noch Geschäfte machen, die Damen vielleicht
noch ein Buch lesen, ist Nebensache. Diese Welt tanzt einen
immerwährenden Reigen von Verliebtheiten oder, man kann auch
sagen, Liebesschlampereien, wie sich derselbe Raisoneur ausbrückt.
In diese Welt, von der der Dichter abrückt, ist er aber zu¬
gleich verliebt. Er weist sie ab, und er steht mitten brin und
kann ohne sie nicht leben. Und was er hier sieht und beobachtet,
die Erfahrungen, die er hier sammelt, sind bestimmend für seine
Lebens= und Menschenauffassung. Hier liegt der Grund
Schwäche dieses feinen, nachdenklichen Künstlers, der Schnitzler
von jeher gewesen und noch ist.
Das weite Land — der lyrische Titel des Stücks soll kenn¬
zeichnend für das Seelenleben der Menschen der Trogikomödie
sein. Unsre Seelen sind weite Räume mit vielen Kammern, und
es ist schwer, sich darin zurechtzufinden. „Wir versuchen wohl
Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung
ist doch nur etwas Künstliches. ... Das Natürliche ist ... das
Chaos.“ Der Dichter wirft also die alte, nachdenkliche Frage
auf: jo, wer versteht ein menschlich Herz? und beantwortet sie
nihilistisch. Im seelischen Leben ist nichts Feststehendes, Be¬
stimmtes. Eine ungeheure Fülle von Möglichkeiten breitet
sich aus, und niemand kann in diesem Augenblick sagen, welche
Möglichkeit im nächsten Augenblick an die Reihe kommt.
Einer betrügt seine Frau in einem fort und findet es geradezu
satal, daß sie ihn nicht betrügt: ihre Tugenb trritiert ihn. Dann
betrügt sie ihn mit einem dummen Jungen — wer kann sagen,
wie sie dazu kommt? — und er findet das eigentlich ganz in der
Ordnung, aber es braucht vor ihm nur darüber geklatscht zu
werden, und er fordert den Jungen. Und er denkt zunächst natür¬
lich gar nicht daran, ihn niederzuknallen; aber dann sieht er den
„frechen“ Blick der Jugend, und da wird er bös und zielt. Und
nachdem dies vollbracht ist, entläßt er die sich ihm anbietende
Geltebte, der er alles opfern wollte, ergibt sich dem Einsamkeits¬
gefühl und wird — ja, wer weiß, was er tun wird? Der Dichter
auch nicht. Der steht nur immer dabei und murmelt etwas von
„weitem Land“ und „Chaos“ und blickt bald nachdenklich drein,
bald spöttisch. Chaos, meine Herrschaften, nichts als Chaos.
Und da er nun einmal bei so chaotischer Psychologie ange¬
langt ist, machts ihm Spaß, das Chaotische dick zu unterstreichen.
Seine Leute müssen partont sich anders benehmen, als man wohl
erwarten sollte. Da liebt einer seine Frau mit ausbauernder
Hingebung, und deshalb — gönnt er ihr alle Liebhaber, die sie
sich zulegt, und verkehrt mit ihnen. Ein andrer wieder liebt
seine Frau abgöttisch und kann ihr einfach nicht treu sein, und sie
liebt ihn und kann nicht vergessen, daß so etwas möglich ist,
daß Liebe und Untreue nebeneinander hausen können. Ganz zu
schweigen von andern Seltsamkeiten, die sich aus der permanen¬
ten Durcheinanderliebelei ergeben, die keine Schranke kennt.
In der ganzen Gestaltung dieses Lebensausschnitts, den Schnitzler
bietet, schlägt seine Ueberzeugung von dem Chaotischen, Uner¬
klärlichen des Seelenlebens um in den Willen, durch die Häu¬
sung und Aneinanderreihung von Ungereimtheiten zu verblüffen.
Aus dem seinen, nachspürenden Psychologen guckt ein gerissener
Theatermann hervor, der nicht umsonst in den Kreisen heimisch
ist, die er abschildert. Er weiß auch, mit welchen Mitteln man
auf diese Kreise wirkt — er schreibt im Grunde nur für diese
Kreise, von denen er gelegentlich abrückt, und für die dieses Ab¬
rücken eines Dichters, der ihnen doch verfallen ist, nur einen
neuen Reiz bedeutet.
Aber Schnitzler selbst sollte nun allmählich mit sich darüber
zu Rate gehn, für wen er denn eigentlich schreibt. Er müßte
sich darüber klar werden, wenn anders er aus der Sackgasse
herauskommen soll, in die er geraten. Daß er, was das Sexuelle
anlangt, die Psychologie bürgerlicher Drohnenexistenzen heraus
hat, die ihren individualistischen Narrentanz als Herrenmenschen
ohne soziales Verantwortlichkeitsgefühl aufführen, ist ja ganz
interessant. Aber es fragt sich, ob er die Allgemeinheit dazu
bringen kann, diese liebevoll ausgetüftelte Schilderung und Er¬
klärung der Welt, in der er zuhause ist, auch interessant und
wichtig zu finden. Die Allgemeinheit hat wohl nichts dagegen,
daß der Künstler eine Welt des Verfalls und der Fäulnis künst¬
lerisch bändigt; sobald sie aber fühlt und erkennt, daß der Dichter
in diese Welt verliebt ist und von dieser dekadenten