II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 714

24. Das weite Land box 29/5
Das weite Land.
Direktion Rotter im Lessingtheater.
Selten hat sich ein Dramatiker seine Aufgabe mit Bewußtsein so
schwer gemacht wie der Virtuose Schnitzler in seiner Tragikomödie
„Das weite Land“. Um das Chaos einer verspielten Gesellschaft,
die halb unbewußt jeden sittlichen Halt preisgibt, zu charakteri¬
sieren, gibt er alle Voraussetzungen der Konzentration preis, treibt
er eine Verschwendung mit Typen und Episoden, die einander be¬
drängen und den dramatischen Konflikt kaum zu Atem kommen
lassen. Mit der Sicherheit eines Meisters zeichnet er all die aktiven
und passiven Vertreter einer verträumten Leichtfertigkeit, für die
ihm eine gewisse Sippe der Wiener Gesellschaft typisch geworden,
und im Gedränge dieser Figuren und Figürchen hat das Einzel¬
schicksal der Menschen keinen Raum, sich zu entfalten. Selbst der
Held, der über diesem leichten Wellenspiel zu stehen scheint, der
Mann der starken Nerven, der Herrenmensch und Genießer, gelangt
erst ganz zum Schluß zum Bruch des Einheitsbewußtseins, indem
er dem Ehrenkodex der Gesellschaft, den er sonst verhöhnt, ein
mörderisches Opfer bringt; er besinnt sich zu spät auf seine dra¬
matische Mission, um uns in den Abgrund dieses inneren Wider¬
spruchs hineinzuziehen. So wirkt das Ganze mehr wie ein buntes
episches Nebeneinander als wie das Nacheinander einer drama¬
tischen Entwicklung. Und selbst die soziale Satire, die mit den
feinsten Mitteln des Dialogs arbeitet, hat ihre volle Unmittel¬
barkeit und Aktualität nicht bewahrt. Das Stück ist in kurzer
Zeit fast historisch geworden; es versetzt ims in die Schwüle der
Vorkriegszeit, in die Verlorenheit eines beklemmenden Traums,
aus dessen Täuschungen die Gesellschaft seither längst erwacht ist.
Immerhin — in aller Zersplitterung und aller abgeblaßten Ak¬
tualität — kann diese Folge von Gesellschaftsbildern und =bildchen
eine gewisse Wirkung ausüben, weil der Meisterstrich Schnitzlers
uns immer wieder mit einer Art wehmütigen Humors an die
Grundelemente ihrer Zerfahrenheit und Verderbnis erinnert. Hat
diese Tragikomödie auch nicht mehr das Vollgewicht eines Anklage¬
stückes wie vor fast anderthalb Jahrzehnten, als sie im Lessing¬
Theater unter Brahm zum erstenmal auftauchte, so hat sie doch die
Kraft bewahrt, durch die außerordentliche Feinheit des Details
das Interesse festzuhalten, wenn auch nicht dramatisch zu steigern.
Das zeigte sich schon vor einigen Jahren bei ihrer Wiederaufnahme
in einem Rotterschen Theater, und das bewährte sich auch gestern
wieder, als die Direktion Rotter ihre Wirksamkeit im Lessing¬
Theater mit ihr eröffnete. Wie damals, war auch diesmal für
den großen Aufwand an Kräften, den die Fülle charakteristischer
Figuren verlangt, überwiegend gut gesorgt ...
Irene Triesch, die schon für den Erfolg der allerersten Auf¬
führung mitentschied, setzt nach wie vor ihren eigenartigen Ton
empfindsamer Weiblichkeit für die Genia mit voller Wirkung ein.
Mulr Arke
7 1 4
In der nervösen Zagheit eines gequälten Frauenherzens kommt ihr"
wohl kaum eine zweite Darstellerin der Rolle gleich. Und Arnold
Korffs Hofreiter ist überzeugend echt als der vollendete „Mann
von Welt“, in dem sich der Glaube an die eigene Kraft zur Härte
versteinert hat, und der im blinden Vertrauen auf seine Triebe
sich zuletzt doch am inneren Widerspruch verblutet. Die Entschie¬
denheit des Wurfs, mit dem Korff diesen Charmeur, diesen Sieger
der „Gesellschaft“ faßt, und die Sicherheit, mit der er in allen
Situationen die Selbstbeherrschung des Unerschütterlichen äußer¬
lich festhält, haben das Gepräge der Meisterschaft. In einer
großen Episode stellt sich Adele Sandrock diesen beiden Haupt¬
kräften gleich; ein Hauch ihres Heroinentums liegt auf der Ueber¬
legonheit, mit der sie die Schauspielerin Anna Meinhold ausrüstet
und in die letzte Szene der sorgenden Mutter bannt sie alle Vor¬
ahnung, alle Schatten des Niobeschmerzes hinein, dem die un¬
glückliche Frau verfallen ist. Auch sonst war mancher feine Zug
der Charaktere getroffen; so hatte namentlich Georg Alexander
als Otto die echte Verträumtheit der Jugend und Ferdinand
Bonn, der neu in das Ensemble eingetreten war, als Dr. von
Aigner, die richtige Haltung des geschmeidigen Poseurs. Ellen
Tietz bot freilich in der wichtigen Rolle der Erna nur Bild¬
wirkungen, ohne den unheimlichen Ton der gefährlichen Euergie
zu treffen, und auch Julius Falkenstein kam als Schrift¬
steller Rhon diesmal nicht wie sonst auf die Höhe. Sein Humor
hatte nicht die rechte Farbe gefunden. Im ganzen aber war es
doch ein reiches Ensemble, das den schwierigen Anforderungen
Schnitzlers entgegenkam und den Erfolg des Abends sicherte.
Für einen Programmabend der Direktion Rotter im Lessing¬
Theater kann freilich diese Aufführung des Schnitzlerschen Stückes
im wesentlichen eine Wiederholung — nicht gelten. Die Frage,
ob die Direktion Rotter sich der Aufgabe bewußt ist, die das
Lessing=Theater ihr auferlegt, ist noch eine offene. Das Haus, ins
dem Brahm die letzte Zeit seiner Mission erfüllte, in dem Bar¬
nowsky nach der literarischen und darstellerischen Seite hin an
manchem Shakespeare= und Strindberg=Abend ernste künstlerische
Arbeit bot, hat ernste Ueberlieferung und einen starken Kredit zu
bewahren. Das Urteil darüber, ob das Lessing=Theater unter der
neuen Leitung diesen Rang behaupten wird, wird sich erst fällen
lassen, wenn Spielplan, Regie und Darstellung in einer längeren,
Reihe von Vorstellungen ihre dauernde Physiognomie zeigen.
Alfred Klaar.
Die Zukunft der Notterschen Bühnen. Wie uns aus
Frankfurt am Main berichtet wird, übernimmt Direktor Hell¬
mer vom Neuen Theater am 1. September 1925 definitiv die
drei Berliner Bühnen, Lessing=Theater, Kleines The¬
ater, Trianon=Theater als Pächter. Ob er alle drei
Bühnen in seiner Hand behalten wird, entscheidet sich erst im
wird
Laufe der nächsten Spielzeit. Aber im Lessing=Theater
Direktor Hellmer als unabhängiger Herr regieren, ohne seine
Frankfurter Bühne aufzugeben.