II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 258

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23. Der Schleien der Pierrette

Ausschnitt AmERLINER TAGBLATT
vom:
WE
darin liegt der Werk der Partitur. Die Hauptthemen lehnen sich an
Beutsches
Bpernhaus.
Motive von Wagner,
Liszt und Richard Strauß an,
und die Beeinflussung durch das moderne Musikdrama
Zum ersten Male: „Tante Simona“ und „Der Schleier
ist unverkennbar. Die Art der Verwertung aber ist Eigentum
der Pierrette“ von Ernst v. Dohnanyi.
Dohnanyis, der darin eine lebendige Phantasie und den Sinn für
Bühnenwirkung bekundet.
L. S. Später als anderwärts ist gestern Dohnanyi hier am Orte
seiner Wirksamkeit als dramatischer Komponist zu Wort gekommen,
Schwächer war der Eindruck der kleinen Spieloper, die vorauf¬
dafür aber gleich mit zwei Werken: einem harmlosen Einakter und
ging. Auch hier ist die Musik sehr vornehm, und Ouvertüre und
Schluß
einer originellen, bedeutsamen Pantomime. „Tante Simona“ ist
— ein hübsch klingender, reizender Ensemblesatz — zeigen
Novität; „Der Schleier der Pierrette“ erschien bereits vor mehreren
den Komponisten in ihrer heiteren Fassung von einer neuen Seite.
Jahren. Für die Gattung der Pantomime macht sich neuerdings ein
Aber das Ganze bekleidet einen zu dürftigen Inhalt. Ehe das Liebes¬
gesteigertes Interesse bemerkbar. (Vielleicht hängt damit das Auf¬
paar Beatrice und Ghino die aus trüber Lebenserfahrung männer¬
blühen der Kino zusammen.) Gegenüber der älteren Pantomime zeigt
feindliche „Tante Simona“ in zärtlichem Tete=a=tete mit dem Grafen
die moderne zwei Merkmale: die Beschränkung auf das Groteske und
Florio, ihrem zurückgekehrten Jugendfreund, ertappt und dadurch den
Grausige und das Anknüpfen an die Komödia dell'Arte. Wir ver¬
Weg zu seinem eigenen Glücke frei findet, geschieht auf der Bühne
tragen es eben nicht mehr, gemeine Lebensvorgänge durch Ueher¬
so gut wie nichts, was dramatisch interessieren könnte. Wollte aber
treibungen verdeutlicht zu sehen. Auch Arthux Schnißler hat,
Dohnanyi die Harmlosigkeit des alten Singspiels wieder auflehen!
als er dem Komponisten die dichterische Grundlage schlf, zur Pierrot¬
lassen, so ist ihm der Vorwurf nicht zu ersparen, daß er das Orchester
tragödie gegriffen, hat sie aber um eine neue und interessante Nüance
eine zu wuchtige Sprache reden läßt und das leichte Gebilde mit
bereichert. Auf seine stärksten Waffen, auf das feingeschliffene Wort
seiner Musik eher erdrückt als stützt. An anmutigen Zügen fehlte es
und die Differenzierung in der Charakteristik mußte er verzichten; in
aber auch hier nicht.
der Pantomime ist die stoffliche Erfindung alles. Trotzdem bleibt er
„Tante Simona“ wurde von den Damen Marck, Painter und
nicht an der Oberfläche und hat den grellen Effekt psychologisch zu
Fink, den Herren Lehmann, Waschmann und Kandl an¬
vertiefen gewußt.
gemessen gesungen und dargestellt. Für das kleine Genre erwies sich
Schnitzler stellt die traditionellen Lebensmasken mitten in ein Alt¬
die Akustik des Hauses wieder recht ungünstig, so daß der Text bei¬
wiener Milieu. Arlechino ist der reiche Freier, mit dem Pierrette
nahe gänzlich unverständlich blieb. Die Pierrette gab Else Gala¬
sich vermählen soll. Sie verläßt die Hochzeitsgesellschaft und stiehlt
frès. Die denkbare und technisch doch sehr schwierige Rolle stellt
sich nächtlicherweile zu ihrem Pierrot, seinen Liebesgram zu stillen
ungewöhnliche Aufgaben. Schauspielerisch bot Frau Galafrés Aus¬
und gemeinsam in den Tod zu gehen. Das Gift, dem er erliegt,
gezeichnetes: das rein Tänzerische liegt ihr weniger. Die Schlu߬
findet sie nicht den Mut zu trinken und kehrt zu der Gesellschaft
pointe (der Tanz der Wahnsinnigen) versagte dadurch ein wenig, auf
und ihrem Bräutigam zurück, der sie voll Argwohn vermißt hat.
der anderen Seite aber sah man so viel Eindrucksvolles,
Beim Hochzeitstanze erscheint ihr der tote Geliebte; entsetzt flieht sie,
das sich von jeder Uebertreibung fernhielt, in den dramati¬
von Arlechino verfolgt. In Pierrots Zimmer, wohin das Gewissen
schen wie in den Liebesszenen, daß man sich einer starken?
sie zurücktreibt, wird der vergessene Brautschleier zum Verräter ihres
Wirkung nicht entziehen konnte. Sehr gut war auch der Pierrot des
Geheimnisses. Arlechino, von ihr zurückgestoßen, schließt sie mit dem
Herrn Einar Linden. Beide Stücke waren dekorativ sehr hübsch
Toten ein, bei dessen Anblick Pierrette wahnsinnig wird. Tanzend,
ausgestattet, und die Regie Dr. Hans Kaufmanns war nament¬
bricht sie neben Pierrot zusammen. Dohnanyi hat zu dieser Dich¬
lich in der Pantomime zu loben. Die Spieloper leitete Kapellmeister
tung eine Musik geschrieben, die nicht nur fein und meisterlich gemacht
[Krasselt. Den „Schleier der Pierrette“ dirigierte mit vielem
und glänzend instrumentiert, sondern auch von großer Ausdrucks¬
Temperament Dohnänyi selber, der mit seinen Interpreten häufig
kraft ist. Die einzelnen Vorgänge und Stimmungen malt das Or¬
gerufen und lange und lebhaft applaudiert wurde. Die zweite Hälfte #
chester mit sunlicher Verdentlichung und sicherer Charakteristik, und des Abends war also ein echter Erfolg.