C
#
23. Dechleieder Pierrete
Düsseldorfer Nachrichten
Aug 1923
2—.
Tairoff=Gastspiel im Schauspielhaus.
Der Schleier der Pierrein.
Pierrot ist der tragische Melancholiker, der
ins bleiche Mondlicht
sehnsüchtiges Leid
schluchzt. Ihm wird Lust zur Qual, Qual zur
Lust — fremd und gespenstisch irrt er unter den
Alltagsmenschen, die er nicht versteht, wie sie
in ihm nur (den Fremdling, den Abseitigen er¬
blicken müssen. Was er liebt, kann er nicht be¬
sitzen: und weil es ihm als ein ungreifbares
Gaukelspiel vor Augen flattert, darum muß
er es lieben, greift er nach ihm in unselig¬
seliger Leidenschaft. Er sucht das Unbekannte,
Entweichende, die dunklen Sensationen der
Seele, die nicht Ruhe finden kann noch mag.
In sensitiver Selbstquälerei steigert er sich zur
Wollust der Schmerzen, erlebt noch im Dasein
das Geheimnis des Todes, aus dem seine
düstere Sehnsucht aufersteht, um die Geliebte
zu sich zu ziehen. Stärker wirkt seine Macht
aus dem Jenseits, als sein lebendiges Werben,
dem keine Erfüllung je werden wird, da es den
Zweifel am eigenen Selbst in sich trägt.
Als ein gespenstischer Schatten spukt Pierrot!
über die Bretter: seine zarte Gestalt ist beseelt
vom Adel einer Geistigkeit, die nichts gemein
hat mit dem Denken und Fühlen der #ewöhn¬
lichen Welt. Ein Aristokrat der Empfindsamkeit,
jener melancholischen Passivität, die aus skep¬
tischem Fatalismus kommt, ist er so recht eine
Gestalt für geistesverwandte Künstler, die ihn
zum Symbol steigern. Frankreich ging voran:
schon das Rokoko malt den „bleichen Vollmond¬
träumer“, Verlaine und die Dichter und Maler
vom Montmartre umfangen ihn mit wahl¬
verwandter Liebe. Immer wieder taucht er
empor aus nächtlicher Tiefe, immer der gleiche
Phantast, schillernd in rätselvoll=tiessinnigem Ge¬
fühlsüberschwang. Greller Hohn und wehe
Trauer, dumpfe Verzweiflung und wilde Lust
geben dem blassen Antlitz mit den überwachen
Augen, dem grazilen Körper mit den über¬
schlanken Gliedern den seltsam ergreifenden
Ausdruck ewiger Tragik
Auch Artur Schnitzler, der skeptische
Grübler über der Liebe, hat aus verwandter
Seele diese Gestalt beschworen. Die Pantomime
ibt uns zwar nicht den Pierrot, wie ihn Ver¬
es ist eine wienerisch verzärtelte
eine sah —
estalt —, aber das Urwesen leuchtet durch.
senso reicht Dohnanyis Partitur, so geistvoll sie!
box 28
snm
den Spuren Richard Straußens folgt, nicht an
die geniale Charakteristik Schönbergs heran. Sie
enthält packende Momente, wie etwa den grau¬
sigen Tanzrhythmus im zweiten Bilde, aber die
Stimmung ist nicht durchaus sicher getroffen.
Leiver war das Orchester, vor allem in den
Streichern, nicht zureichend Der Dirigent,
Prof. Medtner, entriß ihm Ausdruck, die
Farbe versagte zumeist.
Was Tairoff will, wurde, trotzdem auch
das Dekorative, die Kostüme schon einigermaßen
verstaubt sind, künstlerisches Ereignis. Der Kör¬
per soll sprechen im Einklang mit dem Gesichts¬
ausdruck, immer getragen von dem musikalisch
illustrierten Rhythmus feelischen Geschehens.
Diese Kunst beherrschen die drei Hauptdarsteller
mit oft suggestiv sprechender Überlegenheit. Die
Gefahr der Virtuosität liegt freilich immer nahe,
wenn Künstler mit einem Stück reisen: die Rou¬
tine drängt sich zunächst im Gebaren der mitt¬
leren und kleineren Kräfte durch. Das fiel
gestern auf: Im Tanzfest Harlekins, vom Re¬
aisseur meisterlich angelegt und diszipliniert,
gingen Fülle und Umriß verloren durch die allzu
gewohnheitsmäßigen Bewegungen einiger Dar¬
steller. Nur letzte Gespanntheit und Entspan¬
nung können die differenzierten Stimmungs¬
reize dieser mimodramatischen Szenen erschöpfen.
Gipfel: Wenn der dämonisch bizarre Harle¬
kin (Leo Fenin) seinen grell zuckenden Tanz
mit Pierrette aufführt. Wenn Pierrot (Alex¬
ander Rumneff) in dumpfer Qual an den
Wenn Pierrette:
Fensterstäben sich windet.
(Alice Coonen) voll irrer Angst um den
Leichnam flattert, wenn sie — ein eminent eva¬
hafter Zug — ihn emporreißt in neugierig¬
grauser Perversität, um sich an ihm zu Tode zu.
küssen.
Die rhythmisch=mimische Umsetzung psychologi¬
schen Erlebens, die von diesen drei Künstlern:
geleistet wird, ist bewundernswert. Hier sind für
das Theater der Zeit bedeutende Ausdrucks=*
O. A. Sch.
werte gewonnen.
#
23. Dechleieder Pierrete
Düsseldorfer Nachrichten
Aug 1923
2—.
Tairoff=Gastspiel im Schauspielhaus.
Der Schleier der Pierrein.
Pierrot ist der tragische Melancholiker, der
ins bleiche Mondlicht
sehnsüchtiges Leid
schluchzt. Ihm wird Lust zur Qual, Qual zur
Lust — fremd und gespenstisch irrt er unter den
Alltagsmenschen, die er nicht versteht, wie sie
in ihm nur (den Fremdling, den Abseitigen er¬
blicken müssen. Was er liebt, kann er nicht be¬
sitzen: und weil es ihm als ein ungreifbares
Gaukelspiel vor Augen flattert, darum muß
er es lieben, greift er nach ihm in unselig¬
seliger Leidenschaft. Er sucht das Unbekannte,
Entweichende, die dunklen Sensationen der
Seele, die nicht Ruhe finden kann noch mag.
In sensitiver Selbstquälerei steigert er sich zur
Wollust der Schmerzen, erlebt noch im Dasein
das Geheimnis des Todes, aus dem seine
düstere Sehnsucht aufersteht, um die Geliebte
zu sich zu ziehen. Stärker wirkt seine Macht
aus dem Jenseits, als sein lebendiges Werben,
dem keine Erfüllung je werden wird, da es den
Zweifel am eigenen Selbst in sich trägt.
Als ein gespenstischer Schatten spukt Pierrot!
über die Bretter: seine zarte Gestalt ist beseelt
vom Adel einer Geistigkeit, die nichts gemein
hat mit dem Denken und Fühlen der #ewöhn¬
lichen Welt. Ein Aristokrat der Empfindsamkeit,
jener melancholischen Passivität, die aus skep¬
tischem Fatalismus kommt, ist er so recht eine
Gestalt für geistesverwandte Künstler, die ihn
zum Symbol steigern. Frankreich ging voran:
schon das Rokoko malt den „bleichen Vollmond¬
träumer“, Verlaine und die Dichter und Maler
vom Montmartre umfangen ihn mit wahl¬
verwandter Liebe. Immer wieder taucht er
empor aus nächtlicher Tiefe, immer der gleiche
Phantast, schillernd in rätselvoll=tiessinnigem Ge¬
fühlsüberschwang. Greller Hohn und wehe
Trauer, dumpfe Verzweiflung und wilde Lust
geben dem blassen Antlitz mit den überwachen
Augen, dem grazilen Körper mit den über¬
schlanken Gliedern den seltsam ergreifenden
Ausdruck ewiger Tragik
Auch Artur Schnitzler, der skeptische
Grübler über der Liebe, hat aus verwandter
Seele diese Gestalt beschworen. Die Pantomime
ibt uns zwar nicht den Pierrot, wie ihn Ver¬
es ist eine wienerisch verzärtelte
eine sah —
estalt —, aber das Urwesen leuchtet durch.
senso reicht Dohnanyis Partitur, so geistvoll sie!
box 28
snm
den Spuren Richard Straußens folgt, nicht an
die geniale Charakteristik Schönbergs heran. Sie
enthält packende Momente, wie etwa den grau¬
sigen Tanzrhythmus im zweiten Bilde, aber die
Stimmung ist nicht durchaus sicher getroffen.
Leiver war das Orchester, vor allem in den
Streichern, nicht zureichend Der Dirigent,
Prof. Medtner, entriß ihm Ausdruck, die
Farbe versagte zumeist.
Was Tairoff will, wurde, trotzdem auch
das Dekorative, die Kostüme schon einigermaßen
verstaubt sind, künstlerisches Ereignis. Der Kör¬
per soll sprechen im Einklang mit dem Gesichts¬
ausdruck, immer getragen von dem musikalisch
illustrierten Rhythmus feelischen Geschehens.
Diese Kunst beherrschen die drei Hauptdarsteller
mit oft suggestiv sprechender Überlegenheit. Die
Gefahr der Virtuosität liegt freilich immer nahe,
wenn Künstler mit einem Stück reisen: die Rou¬
tine drängt sich zunächst im Gebaren der mitt¬
leren und kleineren Kräfte durch. Das fiel
gestern auf: Im Tanzfest Harlekins, vom Re¬
aisseur meisterlich angelegt und diszipliniert,
gingen Fülle und Umriß verloren durch die allzu
gewohnheitsmäßigen Bewegungen einiger Dar¬
steller. Nur letzte Gespanntheit und Entspan¬
nung können die differenzierten Stimmungs¬
reize dieser mimodramatischen Szenen erschöpfen.
Gipfel: Wenn der dämonisch bizarre Harle¬
kin (Leo Fenin) seinen grell zuckenden Tanz
mit Pierrette aufführt. Wenn Pierrot (Alex¬
ander Rumneff) in dumpfer Qual an den
Wenn Pierrette:
Fensterstäben sich windet.
(Alice Coonen) voll irrer Angst um den
Leichnam flattert, wenn sie — ein eminent eva¬
hafter Zug — ihn emporreißt in neugierig¬
grauser Perversität, um sich an ihm zu Tode zu.
küssen.
Die rhythmisch=mimische Umsetzung psychologi¬
schen Erlebens, die von diesen drei Künstlern:
geleistet wird, ist bewundernswert. Hier sind für
das Theater der Zeit bedeutende Ausdrucks=*
O. A. Sch.
werte gewonnen.