17.3. Zum grossen Wurstel
Wiener Theater.
Wien, 27. März.
Abende voll exotischen Duftes. Griechische
Satiren, englische Persiflagen, italienische Masken¬
scherze, Lagerbilder aus dem dreißigjährigen
Kriege und ein Stück Wienertum von heute, so
farbig, von einem so geistreichen Stifte festge¬
halten, daß es uns beinahe fremd anmutet: von
solcher Theaterbuntheit waren diese letzten Wo¬
chen. Hellenische Gewänder, Pierotkostüme, Hele¬
barden, Londoner Sportdresses belebten die
Szene: so farbentoll ist der Wiener Theatervor¬
frühling hervorgeschossen. Ist dieses Vorherrschen
des Exotischen Zufall, oder ist eine feine, sym¬
bolische Absichtlichkeit dahinter verborgen? Ge¬
hört das Theater wirklich wieder dem klug ko¬
stümierten Spiel, dem farbigen Einfall, der
phantastischen Wendung? Wird diese nach dem
Naturalismus=Aschermittwoch unserem Theater
den Frühling bringen? .
In diesem Dichterreigen gebührt einem Toten,
einem der ganz Großen der Vortritt, einem, der
nie an das Theater gedacht, einem der merkwür¬
digerweise erst jetzt dem Theater gewonnen wurde
Lund der uns mit unheimlicher Kraft in seinen
Bann zu zwingen weiß. Ich spreche von Lu¬
Zian und seinen „Totengesprächen.“ Dieser
ggriechische Voltaire“ der Einsiedler von Samo¬
#ta stellt bereits das gebrochene Hellenentum
dar: vielleicht steht er uns eben deshalb heute
mäher als irgend ein Schriftsteller des attischen
Klassizismus oder der goldenen Latinität. Lucian
war als Sachwalter durch viele Jahre nicht
bloß bemüht, sich ein Vermögen zu erwirtschaften,
das ihm Unabhängigkeit und literarische Muße
sicherte: eben als Advokat fand er Gelegenheit,
die Schwächen und menschlichen Absonderlich¬
keiten auf das intimste zu studieren. So ward
Lukianos der schärfste Satiriker der hellenischen
Verfallsepoche. Der Arzt, mit einem dichterischen
Blick begabt, wird fast immer Pessimist, Melan¬
choliker: der Tod, dem er unaufhörlich begegnet,
läßt ihn die Nichtigkeit alles Strebens, aller
Liebe, jedes eiteln Wähnens erkennen. Der Ad¬
vokat dagegen läuft beständig Gefahr, dem Cy¬
nismus zu verfallen. Er sieht die menschlich=all¬
zumenschlichen Motive hinter jedem Tun. Er
fieht die kleinen Komödien des Daseins. Er
sieht, dieser Philosoph der Geschäftsleute, wie
Geldgier überall das Szepter führt, wie er selbst,
lächelt er gleich ironisch dazu, dem Taumel er¬
liegt. Geld! Geld! Geld! Dieser heisere Ruf
schrillt uns in der Tat aus den Satiren Luciaus
entgegen. Er läßt die Hetären zufammenkommen,
wovon träumen sie? — Von dem „Schandlohn.“
Er zeigt uns im Hades die Seelen der Verstor¬
benen, noch immer sind sie von allzu irdischen
Gelüsten nicht befreit.
Diese Lucianischen Dialoge, Zwiegespräche
von Geizhälsen, Wucherern, schurkischen Tyrannen,
sophistischen Philosophen sind noch immer von
unheimlicher Lebenskraft. Man erkennt, daß die
Menschlichkeiten seit Jahrtausenden sich im Kern
nicht sehr verändert haben. Nur die Konturen
wechseln, das Bild bleibt immer das gleiche.
Zwei dieser grauen, verstandesscharfen und zugleich
mystisch stiefen Bilder hat Paul Lindau aus
den „Totengesprächen“ geschnitten und auf die
deutsche Bühne gestellt. Das eine zeigt uns Grup¬
pen der Toten, die sich um Charons dunklen
Nachen drängen. Jammer und Wehklagen füllt
die finstere, von schwermütiger Musik tönende
Luft. Da ist nicht einer dieser Abgeschiedenen,
der sich gerne zur Fahrt rüstet; mancher schlägt
verzweifelt um sich und muß wie ein Rasender
gebändigt werden. Und welche Schrecken erst vor
dem Richterstuhl des Totenrichters! Aengstlich
späht jeder nach seiner Brust. Ist sie nicht über¬
sät von Wundmalen und Geschwüren? Denn alle
fündigen Gedanken seines Lebens brechen als wi¬
derliche Gebreste aus der Brust der Gestorbenen
hervor. Und hier wird strenge gerichtet: der
Fleckenlose darf, von Musik geleitet, in das Ge¬
filde der Seligen hinüber, mit furchtbaren Höl¬
lenstrafen wird der Sünder gezüchtigt — eine
ebenso einsach=klare wie in ihrer Sinnenfälligkeit
sogar Diwan und Nachtlamve des Lüstlinas
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aennten
treten als Personen auf — antik künstlerische
Ethik
Das Wiener Lustspieltheater, das sich keinem
Experimente verschließt, hat auch die Lindausche
ziemlich kunstlose Bearbeitung dieser Dialoge, die
unter Schemen spielen und doch voll quellenden
Lebens sind, auf die Bühne, die schmale Prater¬
bühne, zu stellen gewagt. Um ganz zu wirken,
hätte das Bühnenbild in tiefere, geheimnisvollere
Farben getaucht sein wüssen, als dieses Theater
aufzubringen vermag. Dennoch hat die Kraft
und Gröpe der Satire auch hier gewirkt; man
fühlte sich dem gegenwärtigen Tage entrückt und
von Erinnerungen und Ahnungen wie von grauen
Schleiern umsponnen.
In das lebendigste, lärmendste Treiben da¬
gegen führte uns Erich Kodns historisch¬
tragischer Einakter „MamzelNCourage“
mitten hinein. Der Hintergrund dieses Dramas
ist kulturhistorisch reizvoll genug: das Lager¬
leben des dreißigjährigen Krieges, die Zeit des
Grimmelshausen, aus dessen Conrage=Roman der
Einakter das Motiv entnimmt. Fräulein Courage
ist eine Soldatendirne, mutig, ein guter Kamerad,
dabei nicht ohne zärtliches Gefühl. Obwohl sich
das ganze Offizierskorps ihrer Liebe rühmt, fand
sie dennoch in diesen durchaus nicht konven¬
tionellen Zeitläuften einen sehr schmucken Ge¬
mahl. Von den Kameraden gehänselt, bietet er
diesen die Wette: er wird vor dem ganzen Lager
seine junge Frau in der Hochzeitsnacht peitschen.
Schon hebt er den rohen Arm zum Schlag, da
sticht ihn die Dirne, die noch immer die weibliche
Würde nicht verlor, mit dem Degen nieder.
Dieses Stück trifft den derben, brutalen, ma߬
losen Ton dieses Kreises und der Zeit ungemein:
gleich einer farbigen Impression saust das Ganze
geschwind vorüber. Der Schluß verstimmt ein
wenig durch die fast selbstverständliche Pointe.
Man erwartet die überraschenden, geistreichere
Wendung; statt dessen kommt doch nur der schrille
Theatercoup. Herr Korn hat bisher der Bühne
einige romantisch gefärbte, sehr theatergemäße,
phantasiereiche Einakter mit stark pantomimischem¬
Einschlag gegeben. Auch in „Mamzell Courage“
waltet ein gewisses pantomimisches Element vor.
Schnitzlers „Praterwurstel“ der diesen Abend be¬
schröß, ist ganz als Puppenspiel gedacht. Das
Stück bildet eine Art Satyrspiel zu Schnitzlers
eigenen ernsthaften Werken. Auf der Hauswurst¬
bühne sehen wir die Lieblingsfiguren dieses Dich¬
ters, das süße Mädel, den süßen Lebebuben, das
dämonische Weib, den Raisoneur, den eifersüch¬
tigen Gatten, den Tod als Marionetten ein iro¬
nisches Stückchen tragieren. Dabei fallen hübsch
gedrechselte Worte, auch Kritik und Publikum
bekommen ein paar elegante Degenstiche: zum
Schluß erweitert sich der literarische Puppen¬
scherz fast zum Welttheater, von nachdenklichen
Lichtern beleuchtet. Ein „Stück“ ist diese
Schnitzlergroteske natürlich nicht, aber sie wird
den Schätzern und Kennern dieses zartsiungen,
noblen Geistes schon als biographischer Beitrag
vonftärkem Interesse sein.
Wiener Theater.
Wien, 27. März.
Abende voll exotischen Duftes. Griechische
Satiren, englische Persiflagen, italienische Masken¬
scherze, Lagerbilder aus dem dreißigjährigen
Kriege und ein Stück Wienertum von heute, so
farbig, von einem so geistreichen Stifte festge¬
halten, daß es uns beinahe fremd anmutet: von
solcher Theaterbuntheit waren diese letzten Wo¬
chen. Hellenische Gewänder, Pierotkostüme, Hele¬
barden, Londoner Sportdresses belebten die
Szene: so farbentoll ist der Wiener Theatervor¬
frühling hervorgeschossen. Ist dieses Vorherrschen
des Exotischen Zufall, oder ist eine feine, sym¬
bolische Absichtlichkeit dahinter verborgen? Ge¬
hört das Theater wirklich wieder dem klug ko¬
stümierten Spiel, dem farbigen Einfall, der
phantastischen Wendung? Wird diese nach dem
Naturalismus=Aschermittwoch unserem Theater
den Frühling bringen? .
In diesem Dichterreigen gebührt einem Toten,
einem der ganz Großen der Vortritt, einem, der
nie an das Theater gedacht, einem der merkwür¬
digerweise erst jetzt dem Theater gewonnen wurde
Lund der uns mit unheimlicher Kraft in seinen
Bann zu zwingen weiß. Ich spreche von Lu¬
Zian und seinen „Totengesprächen.“ Dieser
ggriechische Voltaire“ der Einsiedler von Samo¬
#ta stellt bereits das gebrochene Hellenentum
dar: vielleicht steht er uns eben deshalb heute
mäher als irgend ein Schriftsteller des attischen
Klassizismus oder der goldenen Latinität. Lucian
war als Sachwalter durch viele Jahre nicht
bloß bemüht, sich ein Vermögen zu erwirtschaften,
das ihm Unabhängigkeit und literarische Muße
sicherte: eben als Advokat fand er Gelegenheit,
die Schwächen und menschlichen Absonderlich¬
keiten auf das intimste zu studieren. So ward
Lukianos der schärfste Satiriker der hellenischen
Verfallsepoche. Der Arzt, mit einem dichterischen
Blick begabt, wird fast immer Pessimist, Melan¬
choliker: der Tod, dem er unaufhörlich begegnet,
läßt ihn die Nichtigkeit alles Strebens, aller
Liebe, jedes eiteln Wähnens erkennen. Der Ad¬
vokat dagegen läuft beständig Gefahr, dem Cy¬
nismus zu verfallen. Er sieht die menschlich=all¬
zumenschlichen Motive hinter jedem Tun. Er
fieht die kleinen Komödien des Daseins. Er
sieht, dieser Philosoph der Geschäftsleute, wie
Geldgier überall das Szepter führt, wie er selbst,
lächelt er gleich ironisch dazu, dem Taumel er¬
liegt. Geld! Geld! Geld! Dieser heisere Ruf
schrillt uns in der Tat aus den Satiren Luciaus
entgegen. Er läßt die Hetären zufammenkommen,
wovon träumen sie? — Von dem „Schandlohn.“
Er zeigt uns im Hades die Seelen der Verstor¬
benen, noch immer sind sie von allzu irdischen
Gelüsten nicht befreit.
Diese Lucianischen Dialoge, Zwiegespräche
von Geizhälsen, Wucherern, schurkischen Tyrannen,
sophistischen Philosophen sind noch immer von
unheimlicher Lebenskraft. Man erkennt, daß die
Menschlichkeiten seit Jahrtausenden sich im Kern
nicht sehr verändert haben. Nur die Konturen
wechseln, das Bild bleibt immer das gleiche.
Zwei dieser grauen, verstandesscharfen und zugleich
mystisch stiefen Bilder hat Paul Lindau aus
den „Totengesprächen“ geschnitten und auf die
deutsche Bühne gestellt. Das eine zeigt uns Grup¬
pen der Toten, die sich um Charons dunklen
Nachen drängen. Jammer und Wehklagen füllt
die finstere, von schwermütiger Musik tönende
Luft. Da ist nicht einer dieser Abgeschiedenen,
der sich gerne zur Fahrt rüstet; mancher schlägt
verzweifelt um sich und muß wie ein Rasender
gebändigt werden. Und welche Schrecken erst vor
dem Richterstuhl des Totenrichters! Aengstlich
späht jeder nach seiner Brust. Ist sie nicht über¬
sät von Wundmalen und Geschwüren? Denn alle
fündigen Gedanken seines Lebens brechen als wi¬
derliche Gebreste aus der Brust der Gestorbenen
hervor. Und hier wird strenge gerichtet: der
Fleckenlose darf, von Musik geleitet, in das Ge¬
filde der Seligen hinüber, mit furchtbaren Höl¬
lenstrafen wird der Sünder gezüchtigt — eine
ebenso einsach=klare wie in ihrer Sinnenfälligkeit
sogar Diwan und Nachtlamve des Lüstlinas
box 22/9
aennten
treten als Personen auf — antik künstlerische
Ethik
Das Wiener Lustspieltheater, das sich keinem
Experimente verschließt, hat auch die Lindausche
ziemlich kunstlose Bearbeitung dieser Dialoge, die
unter Schemen spielen und doch voll quellenden
Lebens sind, auf die Bühne, die schmale Prater¬
bühne, zu stellen gewagt. Um ganz zu wirken,
hätte das Bühnenbild in tiefere, geheimnisvollere
Farben getaucht sein wüssen, als dieses Theater
aufzubringen vermag. Dennoch hat die Kraft
und Gröpe der Satire auch hier gewirkt; man
fühlte sich dem gegenwärtigen Tage entrückt und
von Erinnerungen und Ahnungen wie von grauen
Schleiern umsponnen.
In das lebendigste, lärmendste Treiben da¬
gegen führte uns Erich Kodns historisch¬
tragischer Einakter „MamzelNCourage“
mitten hinein. Der Hintergrund dieses Dramas
ist kulturhistorisch reizvoll genug: das Lager¬
leben des dreißigjährigen Krieges, die Zeit des
Grimmelshausen, aus dessen Conrage=Roman der
Einakter das Motiv entnimmt. Fräulein Courage
ist eine Soldatendirne, mutig, ein guter Kamerad,
dabei nicht ohne zärtliches Gefühl. Obwohl sich
das ganze Offizierskorps ihrer Liebe rühmt, fand
sie dennoch in diesen durchaus nicht konven¬
tionellen Zeitläuften einen sehr schmucken Ge¬
mahl. Von den Kameraden gehänselt, bietet er
diesen die Wette: er wird vor dem ganzen Lager
seine junge Frau in der Hochzeitsnacht peitschen.
Schon hebt er den rohen Arm zum Schlag, da
sticht ihn die Dirne, die noch immer die weibliche
Würde nicht verlor, mit dem Degen nieder.
Dieses Stück trifft den derben, brutalen, ma߬
losen Ton dieses Kreises und der Zeit ungemein:
gleich einer farbigen Impression saust das Ganze
geschwind vorüber. Der Schluß verstimmt ein
wenig durch die fast selbstverständliche Pointe.
Man erwartet die überraschenden, geistreichere
Wendung; statt dessen kommt doch nur der schrille
Theatercoup. Herr Korn hat bisher der Bühne
einige romantisch gefärbte, sehr theatergemäße,
phantasiereiche Einakter mit stark pantomimischem¬
Einschlag gegeben. Auch in „Mamzell Courage“
waltet ein gewisses pantomimisches Element vor.
Schnitzlers „Praterwurstel“ der diesen Abend be¬
schröß, ist ganz als Puppenspiel gedacht. Das
Stück bildet eine Art Satyrspiel zu Schnitzlers
eigenen ernsthaften Werken. Auf der Hauswurst¬
bühne sehen wir die Lieblingsfiguren dieses Dich¬
ters, das süße Mädel, den süßen Lebebuben, das
dämonische Weib, den Raisoneur, den eifersüch¬
tigen Gatten, den Tod als Marionetten ein iro¬
nisches Stückchen tragieren. Dabei fallen hübsch
gedrechselte Worte, auch Kritik und Publikum
bekommen ein paar elegante Degenstiche: zum
Schluß erweitert sich der literarische Puppen¬
scherz fast zum Welttheater, von nachdenklichen
Lichtern beleuchtet. Ein „Stück“ ist diese
Schnitzlergroteske natürlich nicht, aber sie wird
den Schätzern und Kennern dieses zartsiungen,
noblen Geistes schon als biographischer Beitrag
vonftärkem Interesse sein.