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16.1. Lebendige Stunden— zuklus
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Theater=Korrespondenz.
doch thatsächlich. Auch mit den Kreisen der deutschen Arbeit in Land¬
wirthschaft und Industrie haben sie wenig gemein. An die höhere Be¬
amteuschaft können sie noch weniger heran. Ihre gesellschaftlichen Be¬
ziehungen teudiren in der Hauptsache nach einer Richtung hin, zur Welt
der Börse. Und in der That: in der Psychologie des modernen Börsen¬
mannes und des modernen Theatermannes findet sich manch gleicher Zug.
Vor Allem sind es zwei Momente, die in beiden Welten vorherrschend in
Betracht kommen: die Illusion und die Spekulation.
Ich habe natürlich hier nicht das Bild irgend eines einzelnen Theater¬
schriftstellers zeichnen wollen. Ich wollte vielmehr die Grundlage des
modernen Theaterbetriebs bloßlegen und aus dieser Grundlage heraus
vielleicht mit einer gewissen dichterisch psychologischen Begabung den Typus,
die „Idee“ des modernen Theaterschriftstellers organisch entwickeln.
Die Produkte der Herren Engel und Dreyer sind nichtswürdige
Arbeiten. Herr Engel stellt einen versoffenen, aus dem Amte gejagten
alten Pastor, einen jungen angeblich orthodoxen Pastor und eine berufs¬
mäßige Dirne angesichts des Todes einander gegenüber. Er läßt in Todes¬
nöten den „orthodoxen“ Pastor und die Dirne in Liebe zu einander ent¬
brennen und er läßt schließlich die „Orthodoxie“ des jungen Pastors durch
die reine und geläuterte „Menschlichkeit“ der Dirne ud abenelum führen.
Diesen Vor= und Ausgang begleitet der alte versoffene Pastor mit einer
Predigt im Sinne vorgeblich Gocthe'scher „Menschlichkeit", unter mi߬
bräuchlicher Anwendung eines Citats aus dem Gott und der Bajadere.
Herrn Dreyers drei Einatter sind freche Schamlosigkeiten.
Herr Georg Engel ist aus der liberalen Welt, etwa des Berliner
Tageblattes, hervorgegangen. Herr Max Dreyer hat lange Zeit der
nationalen Täglichen Rundschau angehört. Man sieht: das Theatergeschäft
gleicht solche Gegensätze aus.
Da Arthur Schnitzlers „Lebendige Stunden“ noch immer das einzige
Werk von einiger literarischer Bedeutung sind, das dieser Theaterwinter
gebracht hat, komme ich mit ein paar Worten darauf zurück. Anlaß giebt
mir ein Brief, den ein mir persönlich unbekannter, aber = eben nach dem
Briefe zu schließen — regelmäßiger und verständuißvoller Leser meiner
Theaterkritiken mir geschrieben hat. Diesem Leser ist es nämlich gelungen, eine
wie mich dünkt — einwandsfreie Erklärung der „Frau mit dem Dolche“
zu finden. Hier ist sie: „Das Leitmotiv, das sich durch alle vier Stücke
zieht, ist ... der Gegensatz zwischen den „lebendigen Stunden“ des
ästhetischen und des praktischen Menschen und dieses spezielle Problem
auf dieser Linie lautet im ersten Stück „Künstler und Schmerz“,
12*
16.1. Lebendige Stunden— zuklus
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Theater=Korrespondenz.
doch thatsächlich. Auch mit den Kreisen der deutschen Arbeit in Land¬
wirthschaft und Industrie haben sie wenig gemein. An die höhere Be¬
amteuschaft können sie noch weniger heran. Ihre gesellschaftlichen Be¬
ziehungen teudiren in der Hauptsache nach einer Richtung hin, zur Welt
der Börse. Und in der That: in der Psychologie des modernen Börsen¬
mannes und des modernen Theatermannes findet sich manch gleicher Zug.
Vor Allem sind es zwei Momente, die in beiden Welten vorherrschend in
Betracht kommen: die Illusion und die Spekulation.
Ich habe natürlich hier nicht das Bild irgend eines einzelnen Theater¬
schriftstellers zeichnen wollen. Ich wollte vielmehr die Grundlage des
modernen Theaterbetriebs bloßlegen und aus dieser Grundlage heraus
vielleicht mit einer gewissen dichterisch psychologischen Begabung den Typus,
die „Idee“ des modernen Theaterschriftstellers organisch entwickeln.
Die Produkte der Herren Engel und Dreyer sind nichtswürdige
Arbeiten. Herr Engel stellt einen versoffenen, aus dem Amte gejagten
alten Pastor, einen jungen angeblich orthodoxen Pastor und eine berufs¬
mäßige Dirne angesichts des Todes einander gegenüber. Er läßt in Todes¬
nöten den „orthodoxen“ Pastor und die Dirne in Liebe zu einander ent¬
brennen und er läßt schließlich die „Orthodoxie“ des jungen Pastors durch
die reine und geläuterte „Menschlichkeit“ der Dirne ud abenelum führen.
Diesen Vor= und Ausgang begleitet der alte versoffene Pastor mit einer
Predigt im Sinne vorgeblich Gocthe'scher „Menschlichkeit", unter mi߬
bräuchlicher Anwendung eines Citats aus dem Gott und der Bajadere.
Herrn Dreyers drei Einatter sind freche Schamlosigkeiten.
Herr Georg Engel ist aus der liberalen Welt, etwa des Berliner
Tageblattes, hervorgegangen. Herr Max Dreyer hat lange Zeit der
nationalen Täglichen Rundschau angehört. Man sieht: das Theatergeschäft
gleicht solche Gegensätze aus.
Da Arthur Schnitzlers „Lebendige Stunden“ noch immer das einzige
Werk von einiger literarischer Bedeutung sind, das dieser Theaterwinter
gebracht hat, komme ich mit ein paar Worten darauf zurück. Anlaß giebt
mir ein Brief, den ein mir persönlich unbekannter, aber = eben nach dem
Briefe zu schließen — regelmäßiger und verständuißvoller Leser meiner
Theaterkritiken mir geschrieben hat. Diesem Leser ist es nämlich gelungen, eine
wie mich dünkt — einwandsfreie Erklärung der „Frau mit dem Dolche“
zu finden. Hier ist sie: „Das Leitmotiv, das sich durch alle vier Stücke
zieht, ist ... der Gegensatz zwischen den „lebendigen Stunden“ des
ästhetischen und des praktischen Menschen und dieses spezielle Problem
auf dieser Linie lautet im ersten Stück „Künstler und Schmerz“,
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