II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 225

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16.1. Lebendige Stunden- zyklus
Abschluß.
Von Alfred Kerr.
Neue Namen mit guten Stücken brachte dieser arme Winter nicht. Aus
Ordnungsliebe betracht' ich, was Männer von altem Namen zu Wege gebracht.
Ich will bei dem Theaterschriftsteller H. Sudermann am längsten verweilen; es
giebt dort am meisten Spaß.
Sudermanns neues Dr .... Drama hat zwei Vorzüge. Wie sind sie
am knappsten zu benennen? Erstens: der feine Ton. Zweitens: der heiße Atem.
Werfen wir, wie ein anmutiger Feuilletonist sagt, einen Blick auf den feinen
Ton. Daß Sudermann der geborene Aristokrat ist, war bekannt, seit der Vater
von Magdalene Schwarte=dall=Orto den Satz sprach: „Herr Regierungs¬
rat, ich weiß noch nicht, ob in diesem Hause ein Stuhl für Sie da ist; aber
da Sie den Weg hierher so rasch gefunden haben, so werden Sie müde sein. Ich
bitte, setzen Sie sich.“ Schon seitdem in der „Ehre“ die Kommerzienratstochter hin¬
warf: „Ich bemühe mich so sehr, Sie zu verstehen, daß ich schon angefangen
habe, Sie zu bedauern.“ In dem neuen Stück mengt sich ein farbig interessantes
Geplauder mit vornehmster Feinheit. Die Heldin schlägt gewissermaßen einen
ersten Akkord an, wenn sie sagt: „Es giebt in diesem Thal der Thräuen soviel
zu lachen, mein lieber Geheimrat Addio!“ Ueber die Heldin äußert sich
ein Staatssekretär. Ein Staatssekretär. „Die Frau, an deren Tische entre poire
et fromage die Geschicke mancher Gesetzesvorlage besiegelt worden sind.“ Zu dem
Staatssekretär, sagt ein Prinz (ein Prinz): „Entzückt, Exellenz, Ihnen entre
deux batailles die Hand drücken zu dürfen.“ Als der Prinz auf dem Schreibtisch
ein kompromittierendes Blatt entdeckt, ruft er: „Ah, parbleu!“
Auch ein Sudermann'sches junges Mädchen erscheint. Was sie sagt, ist
weniger vornehm als anmutig. Ellen erzählt ihrem Verlobten Norbert: nachts
komme Mutter heimlich in ihr Schlafzimmer und streichle ihr Kopfkissen. „Ja,
ja! — hast sie auch lieb, Nori — nicht?“ Lieber als die eigene Mutter, sagt er.
Worauf Ellen: „O Gott, das soll man nicht, das darf man nicht. Das ist ja
Sünde.“ Wie lieblich; ah, parbleu!
Werfen wir, wie der Feuilletonist sagt, einen Blick aef den heißen Atem.
Durch welche Technik erzeugt Sudermann den heißen Atem? Ich glaube: durch
die Noch=Nicht=Technik. Ein erwartetes starkes Ereignis tritt noch immer
nicht ein. Im Katzensteg war das ein zu vollziehender Beischlaf. Heut ist es
die Entdeckung eines längst vollzogenen Beischlafs; Ellens Mutter und Nori's
Neue Deutsche Rundschau (XIII).“
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