II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 250

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14. Der Schleier der Beatrice
Nr. 34.
Die Nation.
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Novellen Schnitzler's. Noch nie ist jedoch das Dramatische in diesem
forschung aufhört; aber der Dilettantismus beginnt freilich dort, wo
Problem so rein ausgeprägt gewesen wie im „Schleier der Beatrice.“
Beweisbares und Unbeweisbares, Vermuthetes, Phantastisches und Un¬
Das Stück spielt zu Bologna, im 16. Jahrhundert. Der
denkbares wirr durcheinander gemischt werden. Das ist in diesem Buche
Herzog von Bentivoglio hat einen entscheidenden Kampf mit Borgia zu
der Fall, und insofern ist das Werk von Houston Stewart Chamberlain
fechten. Es ist die letzte Nacht. Filippo Loschi, ein Dichter, erlebt das
in der That das Werk eines Dilettanten, als den sich der Verfasser
Geschick seines Lebens. Er hat Teresina geliebt, eine vornehme
mit Selbstbewußtsein bezeichnet.
Dame; allein die Liebe ist verklungen. Er weiß nichts mehr
Allein er täuscht sich über die Bedeutung eines solchen Buches;
von der Zeit, da diese Leidenschaft ihn füllte: er liebt eine
es kann im Wesentlichen wiederum nur unklaren Dilettanten Be¬
andere, Beatrice, ein sechzehnjähriges Kind. Drei Tage kennt er
friedigung, Belehrung und Anregung verschaffen. Das Werk von
sie, drei Tage gehört sie ihm. „Im Herbste fallen Blätter, im Früh¬
Chamberlain ist wirklich die Arbeit eines Dilettanten für oberflächliche
jahr sprießen andere!“ sagt er, als Einer ihn treulos nennt. In
Dilettanten.
jener letzten Nacht aber vor dem Morgen, da um Bologna gekämpft
Es ist nicht uninteressant, daß Chamberlain sich stolz einen
werden soll, kommt Beatrice und weiß von einem Traum der letzten
Nacht zu erzählen. Der Herzog selbst sei im Traume ihr Gemahl ge¬
Dilettanten nennt, und es ist durchaus folgerichtig, daß er als Ersatz
wesen. Da weist Filippo die Geliebte von sich. „So wenig warst Du
für moderne Wissenschaftlichkeit, die auf dem Fundament von That¬
mein, daß, schlossest Du die Augen, Deine Seele auf Abenteuer aus¬
sachen ruht, die Untrüglichkeit der subjektiven Empfindung proklamirt.
fliegen konnte und ich war Dir nur von Tausend Einer . . .“ Beatrice
Er sagt: „Ein bloß Gedachtes kann ein luftiges Nichts, die Irrfahrt
eines losgerissenen Individuums sein, dagegen wurzelt ein tief Ge¬
geht, der Traum wird Wahrheit. Der Herzog nimmt Beatrice zum
fühltes in Außer= und Ueberpersönlichem, und mag auch Vorurtheil
Weibe, vom Hochzeitsfeste aber schleicht sie hinweg zu Filippo. Sie
Ignoranz die Deutung manchmal fehlgestalten, ein Kern lebendiger
will mit ihm sterben. Dann aber, als sie glaubt, das todtbringende
Wahrheit muß darin liegen.“ Das Außer= und Ueberpersönliche sei
Gift getrunken zu haben, erfaßt sie die Lebenssehnsucht wieder: Sie will
gar nicht näher beleuchtet; aber wer entscheidet darüber, ob etwas zur
nicht sterben, bevor sie ihr Schicksal vollendet, ihr Leben ausgetrunken hat.
„Filippo, ein zweites Mal durch sie enttäuscht, ködtet sich, und Beatrice verläßt
Rubrik des „tief Gefühlten“ gehört, und nur das tief Gefühlte“ muß
einen Kern lebendiger Wahrheit enthalten“. Augenscheinlich trifft die
ihn, kehrt zum Hof zurück. Doch sie hat den Schleier, den ihr der Herzog
gab, beim Todten zurückgelassen und den muß sie dann von der Leiche holen,
Entscheidung Herr Chamberlain und jeder andere, der sich selbst der¬
vom Gemahl begleitet. Das war die einzige Mögkichkeit, ihr Leben zu
artiges bescheinigen will. Es ist sicher, daß der Glaube an die Hexen
retten; denn ihre Flucht war entdeckt worden. Als sie nun mit dem
für Millionen zu dem „tief Gefühlten“ gehört hat, und welcher Irrthum
und welcher Wahnsinn überdies, in denen auch nicht der kleinste Kern
Gemahl an Filippo's Leiche steht, da löst sich alles in ihr, die Lebens¬
sehnsucht und die Todesfurcht. Der Eine starb um sie. Sie hatte ihn
lebendiger Wahrheit steckt.
um eines Anderen willen verrathen, und den wieder um ihn ... Der
Eine Belesenheit, die als Gelehrsamkeit erscheint; und die der
Herzog sagt es ihr:
Unbildung die Vermuthung der Objektivität erregt; ein germanischer
Chauvinismus, der den Verurtheilen bei uns schmeichelt; ein Subjekti¬
„Warst Du nicht, Beatrice, nur ein Kind,
vismus, dessen Feuer erwärmt; gährende Unklarheit der Gedanken durch
Das mit der Krone spielte, weil sie glänzte,
Unklarheit der Sprache und Bilder gesteigert, und alles kühn und selbst¬
Mit eines Dichters Seel', weil sie voll Räthsel, —
gefällig und gutgläubig vorgetragen, solch ein Ragout ist ganz wie
Mit eines Jünglings Herzen, weil's Dir just
geschaffen, um der Halbbildung zu munden. Diese Kost mit ihrem
Geschenkt war? Aber wir sind allzu streng
phantastischen Chauvinismus ist nicht ungefährlich, und auf diese Gefahren
Und leiden's nicht, und jeder von uns wollte

und auf die innere Haltlosigkeit der Argumentationen in ganz knapper
Nicht nur das einz'ge Spielzeug sein — nein, mehr!
„Förin aufierksam geilacht zu haben, ist das Verdienst der angeführten
Die ganze Welt. So nannten wir Dein Thun,
kleinen Brochure.
Betrug und Frevel — und Du warst ein Kind.“
P. N.
Die Todesfurcht aber ist für Beatrice vorbei. Was soll sie noch
erleben wollen? An einem Tage ist ihr das Sterben zweimal schon
nahe gewesen, da hatte sie den Tod von sich gewiesen. Denn das
Schicksal war ja noch nicht geschehen. Jetzt aber kann sie nichts mehr
ersehnen, der Dolch des Bruders, der sie um Filippo's Willen tödten
„Der Schleier dexBeatrice". Schauspiel von Arthur Schnitzler.
will, findet freien Weg zu ihr. Zwei Lebenswege sind zu Ende ge¬
Berlin. S. Fischer. 1901.
schritten worden: „Er liebte sie, er starb, weil er sie liebte ... Die
Mit diesem Werke ist Schnitzler aus dem gewohnten Kreise seiner
Spanne Zeit, die sie ums Licht des Lebens noch geflattert, be¬
Dichtungen herausgetreten. Er bemüht sich hier nicht mehr um die
deutet jetzt nichts mehr. — Sie starb mit ihm. So ist sie hoch geehrt
Darstellung von Gefühlen, die nur im Lichte des nämlichen Tages,
vor allen Frauen.“ Der Morgen aber ist da, bringt den Kampf.
der sie gebracht, groß erscheinen und späterhin doch nur eine leise iro¬
Das Leben geht weiter, erneut Schicksale und Leiden. Nur zwei
nisch=wehe Erinnerungsstimmung erzeugen. Es handelt sich hier auch
Menschen sind geschieden, da ihr Geschick vollstreckt war, und wie sie
nicht mehr um Mensclen, die nur für die Zeit ihrer Gefühle und
sich in der Stunde ihrer letzten Lebenswende erwiesen haben —, große
oder
durch diese besonderen Werth erhalten und, ist das Minuten¬
Menschen, das zeigt die Dichtung.
bestenfalls Monateschicksal ausgelebt, wie Wachskerzchen verlöschen. Im
Diese Notiz kann weder dem reichen Inhalt, noch der Anmuth
„Schleier der Beatrice“ sind große Schicksale an innerlich bedeutenden
des Tons gerecht werden. Doch muß gerechter Weise gesagt werden, daß
jährend in den meisten der früheren Werke Schnitzler's
Menschen vorge
dieses Schauspiel zum menschlich Echtesten gehört, was unserer Zeit an
#enschen überkamen; nun mag diese Gegeneinander¬
große Schicksale
Dichtungen hervorzubringen geschenkt war.
d doktrinär klingen, wie ja auch selbstverständlich
stellung leicht äuß
W. Fred.
Wien.
stungen nach der Größe ihrer Helden oder deren
keine Werthung zwische
ein gerade für Schnitzler bedeutet der „Schleier
Schicksalen beabsichtigt ist
der Beatrice“ einen g#oßen Schritt ins Freie hinaus. Das dichterische
Problem, das alle eine Stücke enthalten, ist hier nun einmal losgelöst
vom kleinen Beiweik wienerischer Art, am Menschen gezeigt, die edel
Geschicke tragen. Dieses Problem aber scheint mir dies zu sen: In
Druckfehler=Berichtigung.
jedem Menschen lebt die Sehnsucht, sein Schicksal zu erleben, und
In dem Artikel Zur Geschichte des Handels und der Industrie
daran, wie er es erlebt, und was mit ihm geschieht, wenn es vollstreckt
im Mittelalter“ (Nr. 31, S. 488 flg.) hat sich auf Seite 491 ein
ist, mag man erkennen, wie viel Großes und Persönliches in ihm war.
sinnentstellender Druckfehler eingeschlichen. Auf Zeile 32 von unten
Am dramatischen Dichter ist es nun, den Charakter der Menschen zu
muß es statt: „ihr eigenes Gesetz, das dasjenige der Zunft war,
zeigen in den Stunden, wo ihn das Schicksal überkommt. Das ist der
heißen: „ihr eigenes Gesetz, das dasjenige der Zukunft war“.
Sinn der „Liebelei“, des „Vermächtniß“, vieler der kleinen, innigen
Verantwortlicher Redakteur: Otto Böhme in Berlin. — Druck von H. S. Hermann in Berlin.