II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 256

box 20/3
14. Der Schleier der Beatrice
438
hassen. Ihr Herz piepst: Jetzt ist es Der! Und wenn es wieder aufwacht, piepst
es: nun ist es Dieser! Im Schlaf gaukeln sie über die Erde. „Daß Du“ ruft
der Held Filippo
— Daß Du,
Die Beatrice ist, und ich, Filippo,
Sih unter den unendlich Vielen fanden,
und daß Dein Vater toll, füllt nicht mit Bangen,
Daß Vittorino starb, der Dich geliebt,
Nicht mit dem fürchterlichsten Grauen Dein Herz.
Und daß Du Fürstin von Bologna bist,
Macht Dich so wenig staunen, Beatrice,
Wie wenn sich eine Mück' auf deine Hand setzt.
Und wenn Gespenster aus dem Grabe kämen,
Ich weiß, sie schreckten Dich, wie Fledermäuse —
Doch auch nicht mehr und nicht auf andre Art.
Wer ist sie? Ist Beatrice ein Weib des wohlbekannten Schlags: der ent¬
weder ausstirbt, aus Gründen der neuen Bildung; oder niemals ausstirbt, aus
Gründen der alten Gebärmutter? Wenn man den Shleier fortzieht, lautet die
Antwort: sie ist ein Kind, und hängt am Leben. Sie verläßt einen Bräutigam
für den Helden, geht wieder zum Bräutigam, läßt den Bräutigam für den Herzog,
den Herzog wieder für den Helden, den gestorbenen Helden wieder für den lebenden
Herzog. Ein Frauenkenner schrieb das Gedicht. Das Wundersamste der Kenner¬
schaft: wie dieser Spielball doch nichts andres im Grunde thut als den Geliebten
lieben. Sie ist ein Kind und hängt am Dasein.
Gewundenes und Empfundenes geht ineinander. Der Held verstößt sie,
eifersüchtig auf einen Traum. In der Hochzeitsnacht kehrt sie wieder, um zu
sterben. Sterben? Er quälte sie zu sehr, wenn sie lebten. Filippo hat noch
feinere Bedenken. Er ist mißtrauisch gegen ihren Tod. Er lügt ihr vor, sie
habe Gift im Wein getrunken. Sie erschrickt, will auf der Erde bleiben. Da
verstößt er sie nochmals; ein zäher Eintreiber der Liebesforderung. Da er nun
starb, will sie das Gleiche thun. Dann argwöhnt sie, er stelle sich tot, um sie aufs
Neue zu prüfen. Schließlich aber, mit dem Ruf „leben!“ verläßt sie den Ge¬
storbenen. Wie die Frau, in der Novelle vom Wagensturz, ihren Liebhaber.
Wie die Frau, in der Schwindsuchtsnovelle, den ihren.
Schönes, absonderliches Werk! Eine Verquickung leisen Taschenspiels mit
letzter Junigkeit. Manches entstand auf rechnerische, manches auf seherische Art.
Der Bau wirkt unverhältnismäßig (Dualismus der Mannsbilder), die Verse nur
etlichemal reizvoll. Verse zu machen ist Oesterreichs Sendung nicht. Grillparzers
Libussa verursacht Bauchschmerzen. Noch Lenau, im Vers der Epen, hat was
Gestoppeltes. Das Ganze bleibt die innerste Quintessenz eines Liebesdenkers.
Einer Natur, in deren Mittelpunkt die Liebe steht; die aber, von dort aus, um
den Sinn des Lebens kämpft: Schuld und Unschuld Fliegen und Geworfenwerden,
Grund und Zweck des Leids. Schnitzler dringt in Höhen und Tiefen wie nie zu¬
vor. Von allem, was der deutsche Winter brachte, reicht nichts an die große Linie,
die zum Sarg Arnold Kramers führt. Hiernach aber wird der Schleier der Beatrice
zu nennen sein.
XI.
Winter, ade. Rückblick auf einen Winter ist kein Rückblick auf einen geistigen
Abschnitt. Also darf man zwar feststellen, daß äußerer Reichtum herrschte; daß
eine Vermehrung der Arten sichtbarer war als eine Steigerung der Werte; daß
ein Sinn für das Spießertum durchbrach; daß glückliche Jahre anders aussehn.
Aber man darf nichts folgern auf die Entwicklung im Großen. So ein Ueberblick
ist ein Zusammenfassen aus Ordnungsliebe. Die Entwicklung kann verschieden
sein von dem mäßigen Stand in zufälligen sechs Monaten.
Dies hinlänglich unterstrichen, packt man ein, weht mit dem Taschentuch und
reist nach Süden.