II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 450

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14. Der Schleier der Beatrice
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Kunstberichte.
Aber wir“ — so spricht der Herzog ernst — „sind allzustreng und leiden's
nicht und jeder von uns wollte nicht nur das einz'ge Spielzeug sein —
nein, mehr! Die ganze Welt. So nannten wir dein Tun Betrug und
Frevel — und du warst ein Kind!“ . So hebt der Herzog, während
die letzte Sonne, die sie alle sehen werden, heraufdämmert und vor den
Toren schon der Kampf beginnt, den Schleier ihres Wesens.
.Was ist's mit diesem Schleier, der nun als leere Hülle zwischen
den beiden Toten, dem Dichter und dem Mädchen liegt? Ist es das, was
die Alltagsmenschen „Gewissen“ nennen? Das dieses Kind nicht kannte,
das sie, an solche Tracht nicht gewöhnt, bei der ersten Gelegenheit abstreift,
ohne es zu merken, und das — als sie es wiederfindet — zum erstenmal
ein müdes Todesverlangen in ihr weckt?
Ist es der Schleier, den Mutter Natur uns allen geheimnisvoll mit¬
gegeben, unserer Bestimmung, unseres Wesens Kern verhüllend? Das
Rärsel des Geschöpfes wie der Schöpfung? Das, wenn es unser Tun ent¬
hüllt, unsere große Schuld zeigt und zugleich unsere große Anschuld? Und
liegt hier nicht das rätselechteste aller Schöpfungsrätsel, das große Geheimnis
des Weibes, das verschleierte Bild der Frauenseele? die alles Große und
Glänzende im Leben nur als ein buntes Spielzeug ihrer Triebe ansieht?
Ein geheimnisvolles Walten, verderblich und doch immer neu das Leben
gebärend, erbärmlich und doch groß wie das Genie, das auch rein instinktiv
handelt! Alle diese Männer hielten nur ein verschleiertes Bild in ihren
Armen. Allen log der Schleier der Beatrice, dieser seltsame Schleier, der
das Nächste und Fernste verknüpft. Hinter dem sich die Arkeime aller
Kreatur regen. Der des Weibes Bewegungen wohl erkennen läßt, aber
ihre Seele verhüllt. „Dein Schleier ist ein Teil von deinem Selbst
und dennoch zupf und zerr' ich stets an ihm und hätt' ihn gestern gern dir
abgerissen“. And als sie ihn endlich abgerissen haben, diese begehrenden
Männer, da stehen sie enttäuscht, vergrämt, zornig. So liebt der Mann
nur die Hülle des Weibes, die glänzende, berückende. Und wenn diese
Hülle fällt, wird das Wort des Einsiedlers von Maria — Sils wahr:
„Wer begriff es ganz, wie fremd sich Mann und Weib sind?“
Der auch sprach das Wort: „Wer von euch Schleier und Aberwürfe und
Farben und Gebärden abzöge: gerade genug würde er übrig behalten, um
die Vögel damit zu erschrecken“. Und an anderer Stelle: „Alles am Weibe
ist ein Rätsel .... Der Mann ist für das Weib ein Mittel ... Wenig
versteht sich sonst das Weib auf Ehre. Aber dies sei eure Ehre, immer
mehr zu lieben als ihr geliebt werdet . . . Der Mann fürchte sich vor dem
Weibe, wenn es liebt: da bringt es jedes Opfer und jedes andere Ding
gilt ihm ohne Wert. ... Also sprach das Eisen zum Magneten: ich hasse
dich am meisten, weil du anziehst, aber nicht stark genug bist, an dich zu
ziehen . .. Der Mann ist im Grunde der Seele nur böse, das Weib aber
ist dort schlecht ... And gehorchen muß das Weib und eine Tiese finden
zu seiner Oberfläche ... Des Mannes Gemüt aber ist tief, sein Strom
rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift
sie nicht ...“
In der Tat, es ist erstaunlich, wie greifbar die Philosophie Nietzsches
in diesen Schleier der Beatrice verwoben ist. Und das ist die Schwäche
des Werkes als Drama: es sind zuviel Gedanken und Symbole und Bilder