II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 452

14. Der Schleier der Beatrice box 20/4
Kunstberichte.
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zu bleiben ... Aber der dramatische Dichter kann sich an diesen Allgemein¬
heiten nicht genügen lassen. Er muß die Vorstellung, die er sich vom An¬
bekannten macht, in das wirkliche Alltagsleben übersetzen. Er muß uns
zeigen, auf welche Weise, in welcher Gestalt, unter welchen Bedingungen,
nach welchen Gesetzen und zu welchem Ende die höheren Mächte, die un¬
begreiflichen Einflüsse, die unsterblichen Sittengesetze ... auf unsere Ge¬
schicke einwirken .... And wenn er ganz ehrlich sein will, verzichtet er
darauf, sich über die unmittelbare Wirklichkeit hinauszuschwingen und mehr
zu kun, als die menschlichen Gefühle in ihren materiellen und psychologischen
Wirkungen zu beobachten . . .“ So der neue Maeterlinck! Die grund¬
sätzliche Amwälzung seiner Welt= und Kunstanschauung habe ich an dieser
Stelle schon gelegentlich der Betrachtung von Monna Vanna eingehend
erörtert (Novemberheft) und kann darum hier kurz sein. Es ist interessant,
zu vergleichen, wie gerade in den beiden Dichtungen Monna Vanna und
Pelleas und Melisande dieser Amschwung seine Spuren aufweist. Die
Motive sind vielfach dieselben, ja der psychologische Grundgedanke: die
brutale Eifersucht des Gatten, dem die Entdeckung der Schuld mehr gilt als
die Schuldlosigkeit seines Weibes, der nichts nach der ihm anvertrauten
Seele, ihrem Leiden und Lieben fragt, ist sogar direkt aus dem früheren
Drama herübergenommen und, mit grelleren dramatischen Lichtern ausge¬
stattet, in Monna Vanna aufs neue zum Angelpunkt und Ausgang gemacht.
Alles in allem war Maeterlinck in seinen früheren Dramen mehr er selbst,
und wirkte darum echter. Immerhin war Monna Vanna ja erst ein
Abergangswerk, wir müssen abwarten, wie dieser bedeutende Künstler sich
weiter entwickelt, über den man auch heute noch ein vorläufig abschließendes
Wort immer noch nicht sagen kann, ja heute weniger denn je. Der alte
Maeterlinck aber, der Dichter der kleinen mystischen Schicksalstragödie, der
Maler der Dämmerungen, der Sänger der abgebrochenen Melodien, der
Meister des geflüsterten Wortes, ist uns noch niemals auf der Bühne so
nahe gekommen, wie jetzt durch die musterhafte Aufführung am Neuen
Theater. Daß damit aber eine neue Epoche unserer Bühnenkunst herauf¬
dämmere, entbehrt jeder Wahrscheinlichkeit. Es geht nicht an, die Dinge
auf der Bühne in einemfort symbolisch zu nehmen, ja es würde uns nicht
einmal weit führen. Auch läßt sich ein Dichter, der so gleichsam auf
Fledermausflügeln geräuschlos und schattenhaft um die Dinge herumzugleiten
versteht, wie Maeterlinck, nicht so bald zum zweiten Male finden. Und es
ist im Grunde nichts als eine Spielerei auf dem freilich geräumigen Gebiete
der Kunst, die Dinge in Nebel aufzulösen, anstatt die wogenden Nebel¬
schleier der Empfindungen und Gedanken zu Gestalten zu verdichten, was
den wirklichen Künstlern immer als das Höhere gegolten hat. Wie? Du
rechnest Maekerlinck nicht zu den wirklichen Künstlern? Doch! —:er selber
ist ja gerade auf dem besten Wege zu diesem Höheren ..