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14. Der Schleier der Beatrice
Symptom dafür gelten lassen; denn sie ist ein deutsches National¬
laster, das auch in der Blütezeit unseres Schriftthums üppig gedieh.
Aber während früher Eitelkeit ihr alleiniges oder wenigstens
stärkstes Motiv war, ist heute die Erwerbslust an ihre Stelle
getreten; das Streben nach Verdienst wurde von dem Streben
nach Verdienen verdrängt. Das wird begreiflich, wenn man sich
vor Augen hält, welche ungeheueren Summen gegenwärtig für
Bücher und illustrierte Zeitungen ausgegeben werden. Auch
hier fehlt für eine Schätzung jeder verlässliche Masstab; auf Grund
einer oberflächlichen Annahme, die ich aus der Multiplication der
mir bekannten Umsatzziffern von Buchhändlern, Verlegern mit der
Anzahl der in Deutschland bestehenden Geschäfte, sowie aus der
Auflage der Familienblätter gewann, bin ich sicher, dass der Betrag
nicht unter hundertvierzig Millionen jährlich sein kann. Und dabei
kauft der Deutsche bekanntlich unendlich schwer ein Buch; aber
die Menge der Leihbibliotheken, Lesecirkel und belletristischen
Blätter sind Abnehmer grössten Stils. Welche Bücher die gelesensten
sind, ist erwiesen; den Record hält Frau von Eschstruth, Karl
May, die Werner und Heimburg, noch einige Frauen von
ähnlicher geistiger Grösse, dann kommen Herr Sudermann und
ein paar französische Pornographen. Wohlgemerkt: Das ist die
Lectüre des Mittelstandes, des gebildeten Bürgerthums; wie es in
den Niederungen aussieht, für deren geistige Bedürfnisse der
Colportagebuchhandel sorgt, davon sei schamhaft geschwiegen.
Der rspannendes Roman mit seiner Sentimentalität und dem
unvermeidlichen sguten Ausganges ist das beliebteste Lesefutter;
ernstere Bücher, die nicht der Unterhaltung, sondern höheren
Zwecken dienen, haben ein unendlich kleines Publicum. Aber
immerhin finden sie allmählich ein solches und sind also noch besser
daran als das künstlerische Drama, das nach der Natur des Theaters
bereits jetzt dem völligen Untergange verfallen musste. An der
Thatsache der völligen Materialisierung unseres Schriftthums
können sie freilich nichts ändern. Der Berufsschriftsteller, in meinen
Augen der Mensch von geringster Daseinsberechtigung, ist fast
immer Kostgänger des Journalismus oder der Leihbibliotheken
und Familienblätter. Es gibt einige hundert Frauen und Männer in
Deutschland, die ohne Geist, Stilgefühl und immer ohne Menschen¬
kenntnis alljährlich ihre zwei oder drei Romane auf den Markt
werfen, anstatt nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft
zu werden, lieber unmögliche Menschen in einem unmöglichen
Deutsch reden lassen; am üppigsten blüht ihr Weizen, eine
klimatische Seltsamkeit, zur Zeit des Christfestes. Sie machen
ihre Abschlüsse mit den Verlegern und Herausgebern, die in
genauer Kenntnis des Publicums ein bestimmtes Quantum
Rührung, Edelmuth und Spannung verlangen und je nach
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14. Der Schleier der Beatrice
Symptom dafür gelten lassen; denn sie ist ein deutsches National¬
laster, das auch in der Blütezeit unseres Schriftthums üppig gedieh.
Aber während früher Eitelkeit ihr alleiniges oder wenigstens
stärkstes Motiv war, ist heute die Erwerbslust an ihre Stelle
getreten; das Streben nach Verdienst wurde von dem Streben
nach Verdienen verdrängt. Das wird begreiflich, wenn man sich
vor Augen hält, welche ungeheueren Summen gegenwärtig für
Bücher und illustrierte Zeitungen ausgegeben werden. Auch
hier fehlt für eine Schätzung jeder verlässliche Masstab; auf Grund
einer oberflächlichen Annahme, die ich aus der Multiplication der
mir bekannten Umsatzziffern von Buchhändlern, Verlegern mit der
Anzahl der in Deutschland bestehenden Geschäfte, sowie aus der
Auflage der Familienblätter gewann, bin ich sicher, dass der Betrag
nicht unter hundertvierzig Millionen jährlich sein kann. Und dabei
kauft der Deutsche bekanntlich unendlich schwer ein Buch; aber
die Menge der Leihbibliotheken, Lesecirkel und belletristischen
Blätter sind Abnehmer grössten Stils. Welche Bücher die gelesensten
sind, ist erwiesen; den Record hält Frau von Eschstruth, Karl
May, die Werner und Heimburg, noch einige Frauen von
ähnlicher geistiger Grösse, dann kommen Herr Sudermann und
ein paar französische Pornographen. Wohlgemerkt: Das ist die
Lectüre des Mittelstandes, des gebildeten Bürgerthums; wie es in
den Niederungen aussieht, für deren geistige Bedürfnisse der
Colportagebuchhandel sorgt, davon sei schamhaft geschwiegen.
Der rspannendes Roman mit seiner Sentimentalität und dem
unvermeidlichen sguten Ausganges ist das beliebteste Lesefutter;
ernstere Bücher, die nicht der Unterhaltung, sondern höheren
Zwecken dienen, haben ein unendlich kleines Publicum. Aber
immerhin finden sie allmählich ein solches und sind also noch besser
daran als das künstlerische Drama, das nach der Natur des Theaters
bereits jetzt dem völligen Untergange verfallen musste. An der
Thatsache der völligen Materialisierung unseres Schriftthums
können sie freilich nichts ändern. Der Berufsschriftsteller, in meinen
Augen der Mensch von geringster Daseinsberechtigung, ist fast
immer Kostgänger des Journalismus oder der Leihbibliotheken
und Familienblätter. Es gibt einige hundert Frauen und Männer in
Deutschland, die ohne Geist, Stilgefühl und immer ohne Menschen¬
kenntnis alljährlich ihre zwei oder drei Romane auf den Markt
werfen, anstatt nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft
zu werden, lieber unmögliche Menschen in einem unmöglichen
Deutsch reden lassen; am üppigsten blüht ihr Weizen, eine
klimatische Seltsamkeit, zur Zeit des Christfestes. Sie machen
ihre Abschlüsse mit den Verlegern und Herausgebern, die in
genauer Kenntnis des Publicums ein bestimmtes Quantum
Rührung, Edelmuth und Spannung verlangen und je nach
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