II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 93

11
Reigen
box 17/2
407 —
„Mache“ der Kunstfreund schmerzlich den Mund verzog. Für die Schrecken der
russischen Gefängnisse und der sibirischen Station fehlt es unserer Hofbühne an
naturalistischem Stilgefühl, ganz ebenso, wie sich unsere Hofschauspieler in dem
„Hochtouristen“ von Kraatz und (dem Münchener Redakteur) Neal nicht wohl
fühlten, obwohl den Einzelleistungen durchaus nichts tadelnswertes nachzusagen ist.
Die derben Mittel der Schwänke dieser Art liegen doch ihrem Wirkungsgebiete fern
und es ist ja auch recht so. Das vielbelachte Stück spielt in der Welt des „Weißen
Rößl“ und seinen Scherzen kann nicht nachgesagt werden, daß sie neuer und besser,
wohl aber daß sie derber sind. Da ziehe ich schon Pierre Vebers im Gärtnertheater
gespielte „Lutti“ vor, denn ist es auch Unsinn, so hat er doch eine äußerst geistreiche
Methode, die ihrem Typus nach längst bekannten Pariser Possenfiguren immer von
neuem durcheinander zu wirbeln, freilich der letzte Akt läßt auch hier ziemlich nach
und recht hahnebüchene Piquanterie muß hier den Nothelfer machen. In der Dar¬
stellung aber steckt auch außerhalb der von Frl. Leonardi sehr echt und doch mit
liebenswürdiger Diskretion gegebenen Berauschungsszeue viel flotte Champagner¬
stimmung. Solche Stücke spielen quasi auf einem dünnen Eisspiegel, wer mit schwer¬
fälliger Deutlichkeit dahertapst, bricht ein.
Doch kehren wir erst zum Hoftheater zurück; einige große Eindrücke gabs doch:
„Richard Ill.“ mit dem der im Durchschnitt recht gut, wenn auch mit manchen
Behelfen arbeitende Shakespearezyklus abschloß. Ernst von Possart spielte die königliche
Bestie; sie ist sehr gezähmt, der Hauptakzent liegt auf geistreicher Schärfe,
weniger auf der Brutalität. Man wird mit dem großen Menschendarsteller über
die Auffassung streiten können, aber man wird von seiner Gestalt doch gepackt und
mitfortgerissen. Auch sein Mephistopheles war milder gestimmt, dennoch die weitaus
überragende Schauspielerleistung in dem weihevoll gegebenen Faustdrama. Es
wurde an fünf Sonn= und Feiertagen hintereinander zu dem Klassikereinheitspreis
von zwei Mark fünfzig Mittags ein Uhr beginnend in dem völlig ausverkauften
Prinzregententheater gegeben; ein gewiß erfreuliches Resultat, für die armen Schau¬
spieler sind freilich die Feiertage schwere Arbeitstage, denn die meisten und gerade
die in den anstrengendsten Rollen beschäftigten, können für die Abendvorstellungen
nicht entbehrt werden. Bedeutend war auch der „Lear“, den Wilhelm Schneider,
der die Einfachheit wahrer Kunst besitzt, zu seinem Bühnenjubiläum bot. Als
darstellerisch famos abgestimmte Vorstellung allein ist die Neueinstudierung von
Ganghofers Meerleuchten“ zu nennen, inniges Empfinden wirkt als Anwalt
für den Dichter, aber psychologisch zeigt sich das Schauspiel doch nicht stichhaltig.
Frl. Brünner suchte dies vielleicht instinktiv einzurenken, indem sie die junge Frau
möglichst mädchenhaft gab. Im Schauspielhaus brachte Centa Bré vom
Hamburger Thaliatheater, eine ursprüngliche Naive spezifisch Münchener Creszenz
einige Neuheiten mit. Richard Nordmanns „gefallene Engel“ und Felix
Saltens „Gemeiner“ der in Nebendingen ganz hübsche Charakteristiker zeigt,
in der Hauptsache die Farben aber grell und unvermittelt nebeneinander setzt, brachten
es kaum zu einigen Wiederholungen, da, das Schauspielhauspublikum einen literarischen
Gaumen hat und das allzu volksstückmäßige nicht verträgt. Dieser fand in Bern¬
steins „D'Mali“ wenigstens einige Nahrung. Die Münchener Schusterstochter, die
einen kurzen Liebesfrühling mit dem „Zimmerherren“ erlebt, ward von der Bre
mit eminenter Unmittelbarkeit gespielt. Auch der Dichter tut in dieser Gestalt sein
bestes. Der Kampf des Mädchens vor dem Muttergottesbilde zwischen dem Gewissen
und den lockenden Tanzweisen des jungen Mannes ist reine Dichtung, genug um den
Berliner Zensor zu chokieren. In den anderen Gestalten zeigt sich Bernstein mehr
als gewandter Bühnenschriftsteller, der nebenbei kein Hehl daraus macht, auf welcher
Seite seine Sympathien liegen. X.
Jeden, der Schnitzlers „Reigen“ gelesen hatte, — und wer hat böse Bücher,
wie dieses, nicht gelesen! — mußte die Nachricht in Erstaunen setzen, daß der