11
Reigen
box 17/2
Berlin N. 24.
Telephon: III, 3051.
—
Ausschnitt aus
Leipziger Volkszeitung
9 · DE 10
Deutsches Reich.
11
Bayrisch=sittlshes.
Aus Münchhn Bird. uns Hoschriehh Verésbayrische
Liberalismus jaumar uchtwenig, daß seit neuerer Zeit
auf allen Gebiet#de öffentlichen Lebens in Bayern das
Zentrum immer Rehr zu Einfluß komme. Mitunter haben
liberale Blätter einige lichte Momente und dann sehen sie
ein, daß an dieser Entwicklung niemand mehr schuld ist,
als ihre eigne kraftlos dahinsiechende Partei, die sich, wenn
es auf Taten ankommt, auch in allen kulturellen Fragen
trotz aller tönenden Worte in nichts von den Ultramontanen
unterscheidet. Das zeigt sich wieder einmal recht deutlich
bei einigen Vorgängen, die zur Auflösung des Akademisch¬
dramatischen Vereins in München geführt haben. Diese,
in der Hauptsache aus jungen Akademikern bestehende Ver¬
einigung, die sich schon seit Jahren große Verdienste um
die zeitgenössische Literatur erworben hat, brachte im letzten
Sommersemester vor geladenen Gästen (also nicht
öffentlich) drei Dialoge aus Artür Schnitzlers Reig
zur Aufführur
Diese Vorstellung weckte die heftigste Ent¬
rüstung der liberalen Allgemeinen Zeitung, die von kleinen
„Sauspielen“ sprach und solchen Lärm schlug, daß die ultra¬
montane Presse aufmerksam wurde und sich dann eifrig
an dem denunzierlichen Geschrei beteiligte. Später brachte
der Zentrumsabgeordnete Dr. Schädler bei der Dehatte
über die politische Lage in Bayern die Sache unter aus¬
drücklicher Berufung auf die Allgemeine Zeitung im Land¬
tage zur Sprache und forderte die Polizeigewalt zum Ein¬
schreiten gegen den „versimplizissimusten“ Geist der Zeit auf.
Solchen deutlichen Wink aus den Reihen der Mehrheits¬
partei zu beachten, hielt auch der Akademische Senat der
Universität für angemessen, und so erfolgte denn in den
letzten Tagen die Auflösung des Vereins (der ün gens
in andrer Form bereits wieder zu neuem Leben erweckt ist).
Der hierauf bezügliche Disziplinarbeschluß enthält als
Motivierung einen Hinweis auf die abfälligen Urteile der
bekanntlich so hochsittlichen liberalen Presse. Nun sollte
man wohl meinen, die letztere werde jetzt selbst erschrecken
vor den Folgen ihrer Denunziation. Aber das ist durchaus
nicht der Fall; die ehrenwerten Organe finden das Vorgehen
des Akademischen Senats sogar ganz berechtigt. Als sie
deshalb in unserm Parteiorgan ghührend festgenagelt
wurden, da antworteten die Münchner
teuesten Nachrichten,
man könne der Disziplinargewalt des Alkademischen Senats
nicht zu nahe treten!
Leider hat diese Entwicklung der Dinge auch noch andre
Folgen gezeitigt. Man sucht vor allen Dingen dem
Simplizissimus auf den Leib zu rücken, der ohnehin
seit einiger Zeit gehörig schikaniert wird. Neuerdings ist
die Polizei beauftragt worden, das unangenehme Blatt
aus den Schaufenstern jener Geschäfte entfernen zu lassen,
die nicht ausgesprochene Buchhandlungen sind. Als weiteres
Opfer hat man sich das noch immer fröhlich gedeihende
Künstlerbrettl Die elf Scharfrichter erkoren. Auch hier wer¬
den trotz der polizeilichen Zensur noch mitunter Sachen auf¬
geführt, die zwar künstlerischen Wert besitzen, aber sexuelle
Dinge etwas freier behandeln, als es der Durchschnitts¬
hilister gewöhnt ist, weshalb auch über diese Aufführungen
bit einiger Zeit die Allgemeine Zeitung und Münchner
steueste Nachrichten so sehr im Tone sittlicher Entrüstung
berichten, daß die ultramontane Presse mit Genugtuung
Ich auf ihre Rezensionen berufen kann. So tragen die
beralen Puritaner redlich dazu bei, die ultramontane
Reaktion zu stärken, die sie angeblich bekämpfen wollen.
Venn es so weiter geht, wird München bald eine ebenso
ttlich=reine Stadt sein wie Berlin.
Reigen
box 17/2
Berlin N. 24.
Telephon: III, 3051.
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Ausschnitt aus
Leipziger Volkszeitung
9 · DE 10
Deutsches Reich.
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Bayrisch=sittlshes.
Aus Münchhn Bird. uns Hoschriehh Verésbayrische
Liberalismus jaumar uchtwenig, daß seit neuerer Zeit
auf allen Gebiet#de öffentlichen Lebens in Bayern das
Zentrum immer Rehr zu Einfluß komme. Mitunter haben
liberale Blätter einige lichte Momente und dann sehen sie
ein, daß an dieser Entwicklung niemand mehr schuld ist,
als ihre eigne kraftlos dahinsiechende Partei, die sich, wenn
es auf Taten ankommt, auch in allen kulturellen Fragen
trotz aller tönenden Worte in nichts von den Ultramontanen
unterscheidet. Das zeigt sich wieder einmal recht deutlich
bei einigen Vorgängen, die zur Auflösung des Akademisch¬
dramatischen Vereins in München geführt haben. Diese,
in der Hauptsache aus jungen Akademikern bestehende Ver¬
einigung, die sich schon seit Jahren große Verdienste um
die zeitgenössische Literatur erworben hat, brachte im letzten
Sommersemester vor geladenen Gästen (also nicht
öffentlich) drei Dialoge aus Artür Schnitzlers Reig
zur Aufführur
Diese Vorstellung weckte die heftigste Ent¬
rüstung der liberalen Allgemeinen Zeitung, die von kleinen
„Sauspielen“ sprach und solchen Lärm schlug, daß die ultra¬
montane Presse aufmerksam wurde und sich dann eifrig
an dem denunzierlichen Geschrei beteiligte. Später brachte
der Zentrumsabgeordnete Dr. Schädler bei der Dehatte
über die politische Lage in Bayern die Sache unter aus¬
drücklicher Berufung auf die Allgemeine Zeitung im Land¬
tage zur Sprache und forderte die Polizeigewalt zum Ein¬
schreiten gegen den „versimplizissimusten“ Geist der Zeit auf.
Solchen deutlichen Wink aus den Reihen der Mehrheits¬
partei zu beachten, hielt auch der Akademische Senat der
Universität für angemessen, und so erfolgte denn in den
letzten Tagen die Auflösung des Vereins (der ün gens
in andrer Form bereits wieder zu neuem Leben erweckt ist).
Der hierauf bezügliche Disziplinarbeschluß enthält als
Motivierung einen Hinweis auf die abfälligen Urteile der
bekanntlich so hochsittlichen liberalen Presse. Nun sollte
man wohl meinen, die letztere werde jetzt selbst erschrecken
vor den Folgen ihrer Denunziation. Aber das ist durchaus
nicht der Fall; die ehrenwerten Organe finden das Vorgehen
des Akademischen Senats sogar ganz berechtigt. Als sie
deshalb in unserm Parteiorgan ghührend festgenagelt
wurden, da antworteten die Münchner
teuesten Nachrichten,
man könne der Disziplinargewalt des Alkademischen Senats
nicht zu nahe treten!
Leider hat diese Entwicklung der Dinge auch noch andre
Folgen gezeitigt. Man sucht vor allen Dingen dem
Simplizissimus auf den Leib zu rücken, der ohnehin
seit einiger Zeit gehörig schikaniert wird. Neuerdings ist
die Polizei beauftragt worden, das unangenehme Blatt
aus den Schaufenstern jener Geschäfte entfernen zu lassen,
die nicht ausgesprochene Buchhandlungen sind. Als weiteres
Opfer hat man sich das noch immer fröhlich gedeihende
Künstlerbrettl Die elf Scharfrichter erkoren. Auch hier wer¬
den trotz der polizeilichen Zensur noch mitunter Sachen auf¬
geführt, die zwar künstlerischen Wert besitzen, aber sexuelle
Dinge etwas freier behandeln, als es der Durchschnitts¬
hilister gewöhnt ist, weshalb auch über diese Aufführungen
bit einiger Zeit die Allgemeine Zeitung und Münchner
steueste Nachrichten so sehr im Tone sittlicher Entrüstung
berichten, daß die ultramontane Presse mit Genugtuung
Ich auf ihre Rezensionen berufen kann. So tragen die
beralen Puritaner redlich dazu bei, die ultramontane
Reaktion zu stärken, die sie angeblich bekämpfen wollen.
Venn es so weiter geht, wird München bald eine ebenso
ttlich=reine Stadt sein wie Berlin.