II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 145

Sittlichkeit als normgebend aufzutrumpfen und sie mit Lebensfragen
der Kunst und Dichtung in ungehöriger Weise zu vermengen?
Ich gestehe, daß ich hierfür keinen Sinn habe und mich niemals
an staatsanwaltliche Meinungen und Sprüche über Literatur und
Kunst und höhere Menschlichkeit kehren werde, so wenig wie ich Lust
habe, bei den Priestern zu erfragen, was Sittlichkeit und vornehm
Gesinnung sei. Wer innerhalb der ästhetischen Kultur steht, die un¬
endlich mehr ist als vage, modische Schöngeister sich träumen lassen,
wird mir nicht Unrecht geben.
Hat man den jüngsten Simplicissimusprozeß in München gegen
Theodor Thomas Heine genau verfolgt? Hat man die Reden des
Staatsanwalts, des Verteidigers, der Sachverständigen und schließlich
die richterliche Begründung des Urteils gewissenhaft auf ihren Gehalt
an echter Kulturweisheit und Kulturkraft verglichen unter Ausscheidung
aller gewohnheitsmäßigen Phrasen und tauben Formeln? Wohlan,
so wird man aufs neue bestätigt gesehen haben, was von der Rolle
des Herrn Staatsanwalts in der ästhetischen Kultur eines so hoch¬
stehenden Volkes wie des deutschen zu halten ist.
„Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit
fort.“ Darum sind weite Kulturgebiete heute noch nichts anderes als
„übertünchte“ Gräber und „gebildete“ drapierte Barbarei.
Und nun wollen wir den Nagel für den nächsten Denunzianten
bereit halten und uns nicht länger mit Herrn Törnsee beschäftigen.
Gesegnet sei die Zeit, wo man die armen Schächer gleich zu den
alten Sündenböcken in die Wüste jagt, weil man in den blühenden
Gefilden der Kultur ringsum für solche Jammergestalten nichts mehr
M. G. Conrad.
übrig hat.
Rainer Maria Kilke als Kunstschriftsteller. Rainer Maria Rilke,
der Troubadour der Mädchen und Abendröten, der Sänger vom
tieferen Sinn der Dinge, ist nicht in dem Sinne Fachmann, daß er
uns Autoritatives und Stichhaltiges über die Gegenstände bieten
könnte, die er als Kunstschriftsteller behandelt. Aber er ist auch
durchaus nicht in dem bösen Sinne kritischer Dilettant, daß er nur
Wertloses, d. i Subjektives und Empfindungsmäßiges mitteilte.
Freilich gibt es Literaten genug, die im Gehen und Stehen Be¬
sprechungen von Kunstwerken und dgl. aus dem Aermel schütteln;
sie erlassen einfach einen Steckbrief hinter der Gänsehaut, die ihnen
während des Genusses vor diesem oder jenem „merveilleusen“ Blatt
über den Rücken schnurrte, oder hinter den Zuckungen ihres Herzens
und des sonstigen Gekröses und damit gut Rilkes Anregungen
gehen dagegen durchaus redlich aus dem Objekt hervor. Dadurch
unterscheidet sich seine Arbeit von einem sterilen Beschwätzen. Von
einer fachmännischen Leistung aber unterscheidet sie sich dadurch,
daß er seinen Gegenstand nicht fest in die Hand nimmt, sondern
nur Mühe gibt, ihn zu Worte kommen zu lassen. Das Objekt!
er einfach reden, er macht es deutlich und arbeitet seine Ei##a.
möglichst erkennbar heraus. Was seine poctischen Leistungen aus¬
zeichnet, bew Ihrt sich auch hier, bei seinen gelegentlichen Auslassungen
über Kunst und Künstler: ein vorbehaltloses Eingehen auf den Gegen¬
stand. Vom Kritiker ist man im allgemeinen eine persönliche Meinung
zu hören gewöhnt. Rilke der Kunstschriftsteller hat soviel Meinungen
als er Objekte hat. Er ist nichts weiter als ein Dolmetscher, seine
Stimme schallt von da und dort, aus Steinen, Farben und Linien
wie sie auch in seiner dichterischen Produktion aus Blumen, Mädchen¬
trauer und Nachtstürmen kommt, aus allem, was nicht reden kann.
All dieses Unwirkliche hat er geformt und vergestaltet, fast nach
Prinzipien der bildenden Kunst. Sein letztes Versbuch führt nicht
umsonst den Litel: Buch der Bilder. Ein Buch voll von Bildsäulen
und Hermen, um welche die kühle, spöttische Ruhe jahrtausendealter
Skulpturen fließt. Nicht umsonst hat das „Buch der Bilder“ auch
das „Lied der Bildsäule". Schrecklich starrt sie mit weißen Augen
in den Tag. Sie hat bronzene Augenlider, die rotbraun aussehen,
als habe sie tausend Jahre lang geweint. Sie steht da und hat die
Hände geballt und lauert. Dabei ist sie viel entrückter als eine Leiche
und voll einer schwir delnden Ueberwindung. Und sie singt Es
könnte fast das Lied des getreuen Johannes im Märchen sein, der
für seine Treue in Stein verwandelt ward und nun tagaus tagein
im Schlafzimmer seines Herrn stand und auf seine Erlösung wartete:
Wer ist es, der mich so liebt, daß er
Sein liebes Leben verstößt?
Man begreift, daß diese Fähigkeit, für Stummes, für stumme Bilder
zu sprechen, auch den Rodinschen Steinen zustatten kommen mußte.
Grade diese Skulptur, in die so viel Persönliches, mangels großer
nationaler oder auch internationaler Konvenienzen, hineingelegt ist,
bot für einen so passionierten Schriftendeuter wie Rilke eine doppelt
dankbare Aufgabe. Und so reiht sich denn sein Rodinbuch“, dem
guten populären Unternehmen Richard Muthers geschickt an. Man
ieht gerne durch seine Augen; und das ist ja wohl die löbliche End¬
absicht der ganzen Mutherschen Sammlung: daß die sonst von Para¬
graphenzeichen umgitterte Künstlererscheinung ein persönliches, tief¬
gefühltes Erlebnis des Lesers werde. Rilkes Bemerkungen über Rodin
werden viele Menschen anmuten als sei ihnen das alles schon einmal
dunkel vorgekommen und dann wieder vergessen worden. Man hat
manchmal traumartige Gedanken, die zwar nicht über die Schwelle
des Bewußtseins treten, aber doch in der Türe dieser Schwelle
ichtbar werden und nach flüchtigem Blick wieder rückwärts ver¬
schwinden. Solche Gedanken glauben wir in Rilkes feinen, oft allzu¬
feinen Sätzen wiederzuerkennen: „Es ist eine dunkle Geduld in
Rodin, die ihn beinahe namenlos macht, eine stille, überlegene
Langmut, etwas von der großen Geduld und Güte der Natur, die
mit einem Nichts beginnt, um still und ernst den weiten Weg zum
Ueberfluß zu gehen.“ — Das langsame Heranreifen des spezifisch
Rodinschen Gedankens in Rodin ist mit vieler Liebe dargestellt, oder
vielmehr diviniert oder glaubhaft gemacht. Vor den realen Daten
hat die Betrachtungsweise Rilkes eine gewisse Scheu. Er sagt alles
gern indirekt und ganz vorsichtig, verkleidet beinahe und unpersönlich
als fürchte er, das Ding durch das zugehörige Wort zu erschrecken
wie man einen Schlafwandler durch Anruf erschreckt. Das Wort
„namenlos“ kommt sehr oft in diesen Monographien und seinen
sonstigen Schriften vor, und zwar stets im wörtlichen Sinne von „ohne
Namen“ oder „den Worten entwachsen“. So erfährt man zwar nicht
wann etwa Rodin könnte geboren sein, dafür aber vieles Namenlose,
z. B. den Sinn von Rodins Körperdarstellungen: „Das Leben, das
in den Gesichtern wie auf Zifferblättern stand, leicht ablesbar und voll
Bezug auf die Zeit — in den Körpern war es zerstreuter, größer,
geheimnisvoller und ewiger. Hier verstellte es sich nicht, hier ging
es nachlässig, wo es nachlässig war und stolz bei den Stolzen; zurück¬
getreten von der Bühne des Angesichts, hatte es die Maske abge¬
nommen und stand wie es war, hinter den Coulissen der Kleider“.
Von altgriechischer Skulptur heißt es später: „Es waren Strömungen
in den verschlossenen Göttern, welche saßen und in den stehenden
war eine Gebärde, die wie eine Fontäne aus dem Steine stieg und
wieder in ihn zurückfiel, ihn mit vielen Wellen erfüllend“. Ich meine,
solche Bemerkungen haben ihr Verdienst als Ausflüsse großer innerer
Kultur wie als Förderungen des Objekts. Wenn man näher zusieht,
so entdeckt man vielleicht auch, welchem Verfahren die Betrachtungs¬
weise Rilkes ihre schätzharen Funde verdankt. Er nimmt eben sein
Objekt, sei das nun die Künstlerpersönlichkeit oder ein Kunstwerk,
nicht als fert., gegeben, um es so gewissermaßen architektonisch zu
analysieren, sondern er löst es in Tätigkeit und Bewegung auf, er
läßt es plausibel vor unseren Augen entstehen. So wird die Ruhe
des Gegenwärtigen als Frucht eben vergangener Bewegung begriffen
und viel tiefer und einfacher verstanden, wie ja auch der Maler einen
ruhenden Muskel erst dann versteht, wenn er ihn in Tätigkeit ge¬
ehen hat. Ich zitiere: „So ist jene unvergeßliche Voix intérieure,
die leifeste Stimme Victor Hugoscher Gesänge, die auf dem Denkmal
des Dichters fast verborgen unter der Stimme des Zornes steht.
Niemals ist ein menschlicher Körper so um sein Inneres versammelt
gewesen, so gebogen von seiner eigenen Seele und wieder zurück¬
gehalten von seines Blutes elastischer Kraft“. Hier hat man die
beiden Kräfte, die um die Bildung des Körpers der Figur streiten,
man begreift ihren Kampf, man denkt wie der Künstler, hinter dem
Kunstwerk stehend; man wäre imstande, die nächste Bewegung der
Figur, wenn sie lebendig würde, hinzuzeichnen. Das nenne ich ver¬
stehen. Die beigegebenen Reproduktionen gestatten zu Rilkes glänzen¬
den Nach= und Einfühlungen fast immer die Probe. Der Lesererlebt
Rodin; oder wenn das zu viel gesagt ist, er hört wenigstens Worte
und Namen für das namenlose Staunen, das uns vor Rodinschen
Skulpturen ergreift. Hier arbeitet ein Laie für Laien, und man kann
ihm dafür dankbar sein.
Weniger gelegen war dem Dichter die Aufgabe, über die Worps¬
*) R. M. Rilke, Auguste Rodin. Aus „Die Kunst“ herausgegeben von
Richard Muther. Verlag Julius Bard, Berlin 1903. M. 1.25.