II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 604

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Reigen
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(Die Hüter des „Reigen".) Da wir bekannt¬
lich keine Sorgen haben, so schäffen wir uns schlauer¬
weise welche an. Es spricht für unsere absolute poli¬
tische Harmlosigkeit, daß sich bei uns seit ein paar
Tagen alles um den „Reigen“ dreht. Die Entente
kann beruhigt sein, von uns kann ihr keinerlei Gefahr
drohen. Im Theatercafé Deutschösterreich sind die
Gemüter momentan aufs heftigste darüber erregt, wer
in der „Reigen“=Frage, die noch verwickelter ist als die
weltberuhmte orientalische Frage, recht behalten wird.
„Hie Glanz — hie Reumann!“ lautet der Feldruf
der beiden gegnerischen Lager. Unentschieden wogt die
Schlacht und bietet unterdessen eine Pikanterie, die
wohl ein Unikum darstellen würde, wenn sie nicht eben
ein echtes Austriacum wäre. Der Bundesminister des
Innern Dr. Glanz hat die weiteren Aufführungen des
„Reigen“ verboten. Dr. Glanz ist in seiner Eigenschaft
als Minister des Innern gleichzeitig der oberste Chef
der Wiener Polizei. Diese selbe Polizei aber trägt
allabendlich Sorge dafür, daß die von ihrem obersten
Chef verboten „Reigen“=Aufführungen ungestört ver¬
laufen. Denn zwischen die Polizei und den Minister ist
als Zwischenglied der Landeshauptmann Reumann
geschoben und der hat die Aufführungen gestattet. Er
kehrt sich nicht an den Minister und da auch die
Polizei nicht gleichzeitig zweien Herren dienen kann,
zieht sie das Näherliegende vor und dient dem kleineren
Herrn, der sich bisher als der Stärkere erwiesen hat.
Einstweilen aber muß der Minister seiner Polizei
dankoar dafür sein, daß es ihrem Pflichtgefühl gelang,
zu verhüten, daß dem hochpoluischen „Reigen =Rummel
sich Straßenkrawalle vor dem Theater zugesellten. Ihr
ist es zuzuschreiben, daß der von Dr. Glanz verbotene
„Reigen“ im Interesse der öffentlichen Sicherheit, für
die gleichfalls Dr. Glanz veranwortlich ist, unge¬
stört blied.
9.
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Rf. 742 Sge.

„Volkserziehung“.
Von W. A. Hammer,
Der „Reigen“=Rummel in unserer Nationalver¬
sammlung gibt dem um das Wohl und die Zukunft des
deutschen Voltes besorgten Erzieher ernstlich zu denken.
Was nüten da alle Schulreformen, wenn das sittliche
Gefühl unserer Jugend systematisch untergraben wird?
Man mag im Schnitzlerschen „Reigen“ den gesättigten
Niederschlag psychologischer Erkenntnisse erblicken, auch
die Technit der Dialoge bewundern, aber auf die Bühne,
am allerwenigsten aber auf ein deutscher Kunst geweihtes
Theater gehört dieses Werk nicht, und noch viel weniger
in unserer ohnehin versumpften, den rohesten Instinkten
der Menschheit so überaus günstigen Zeit. „Der Mensch¬
heit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie! Sie
inkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“ Noch nie
klangen uns diese Worte Schillers so überzeugenb in
die Ohren. Spätere Täge werden ihr Urteil füllen
über diese dem materialistischen Parteigeist entsprungenen
Machenschaften, wie die Abschaffung des Mutterschafts¬
zwanges, Aufhebung der öffentlichen Häuser und die
Förderung unsittlich wirkender Schauspiele, ob sie nun
in einem wirklichen Theater oder in Kinos, hier sogar
unter der Flagge von „Jugendvorstellungen“ vorge¬
führt werden. Denn hier bekommt man oft Szenen
zu sehen, die eben nur geeignet sind, die tierischen Triebe
wachzurufen. Hier hätte in erster Linie unser Volks¬
bildungsamt einzugreisen, wenn ihm die sittliche Erzie¬
hung und Gesundung unseres Volkes wirklich am Her¬
zen gelegen wäre. Statt dessen wird im Gegenteil jede
Gelegenheit benützt, um den beiden Geschlechtern so früh
als möglich, sei es durch Nacktkultur in unseren Bädern,
durch Anschauungsunterricht über den Schandpfuhl des
Dimenwesens oder durch sonstige Mittel, jedes Fünk¬
che“ von Schamgefühl zu rauben. In keinem Staate
ist daher eine solche Jugendverwahrlosung wie bei uns
in Oesterreich hereingebrochen, aber keineswegs, wie es
immer demagogisch ausgemünzt wird, durch den Krieg,
auch nicht durch die Not unserer Zeit, sondern durch jene
„Volksbeglücker“, die am liebsten schon den Embryo
im Mutterleibe in die Fesseln ihrer materialistischen
Weltanschauung zwingen möchten, um das werdende
Geschöpf ihrer Diktatur unterzuordnen. Ist das Freiheit?
Freiheit des Individuums? Toren, die das glauben
können, werden manche sagen. Aber sie haben unrecht.
Jenen Volksrednern, die eben über ein so außerordent¬
liches Geschick verfügen, denkende Menschen zu willenlos
olgenden Herdentieren zu machen, fehlt eben das sittliche
Bewußtsein, das sich auch vor dem strengsten Richter¬
behaupiet. Das irregeleitete Volk mag ihren blendenden
Phrasen heute noch allenthalben, der vorgetäuschten
Freiheit froh, zustimmen und zujubeln, schließlich wird
doch der Tag, allerdings zu spät, kommen, wo der
große Vollsbetrug allen offenkundig sein wird!