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Theater und Musik.
Geschlecht und Charakter.
Neulich sprachen wir hier von Wilde und Shaw. Eine noch
künftigere Gelegenheit, die beiden zu vergleichen, bietet die letzte
Theaterwoche, Oskar Wildes berühmtestes Bühnenspiel ist die ein¬
aktige „Sglome“. Mit raffiniertesten Farben gemalt, ein Bilk
vom Wesen der Ueberbultur; unfmichtbare unfromme Lebenskraft
rast in geschlechtlichen Verzückungen mörderisch daher. (Und solche
Rolle laßt sich selbstverstandlich Fräulein Orska auf die Dauer
uch Bernard Shaw weiß seihr gut, daß er¬
nicht entgehen.) —
starrende, unfruchtbar werdende Kulturen in geschlechtlichen Aus¬
sschweifungem verwildern. Aber nicht im mindesten reizt es seinen
Ehrzenz, dies Bild der Verwesung artistisch zu verklären. Wenn
ben ihm aus dem prachtvoll sbizzierten Geröll in tausendfachem
Aberglauben erstarrter ägyptischer Kultur ein heißer Quell weib¬
licher Lebenskraft hervorschießt — Kleopatra, ein Kind, ein Kätz¬
chen, ein Dämon, so treibt es ihn keineswegs, Kurven toller Sinn¬
lichkeit bewundeond nachzuzeichnen; er schreübt sein „Spiel für
Puritaner“ tm den tragikomischen Versuch eines Genies zu
zeigen, aus solch einem Geschöpf ein Weib, eine König'n und gar
S
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einen Menschen zu machen. Seine ganze Liebe aber gehört dem
02 Cäsar. Und wenn der gut irische Spötter auch hier durchaus
anmerken muß, daß dieser Cäsar ein Mensch ist, der sich gern
reden hört und keineswogs gern an seine Jahre erinnert wird so
ist er für ihn nichtsdestoweniger der Inbegriff aller Genialität
das heißt, der Fähigkeit, nicht vom sinnlichen Affekt, nicht von
Haß und Liebe, sondern von den Dingen selbst das Gesetz der
Handelns zu empfangen. Wie hmmelhoch erhebt sich die Gestalt
dieses Cäsar über all die pazif'stischen Programmgedner, die wir
in diesen Jahrem vor und himter der Rampe anhören mußten. Er
weiß, daß Nache und Gewalt nie etwas anderes wie
neue Nache und Gewrlt in die Welt setzon, und er
weiß auch, daß ein Mensch, der das wahrhaft begreift,
werden
von ihr gekreuzigt
die Welt erobern, oder
muß. Er seinerseits ist befähigt und entschlossen sie zu er¬
obern, wobei er über lebensgefährliche Tiger auf seinem Wege
keineswegs wie ein moralischer Engländer zu Gericht sitzt, son¬
dern sie ganz einsach tötet. Worin sich seine ganze ungeheure sitt¬
liche Ueberlegenheit ausdrückt! Die Liebe zu dieser Gestalt gibi
Shaws „Cäsar und Kleopatra“ trotz ihrer geringen dra¬
matischen Spannung einen ununterbrochen wirksamen dichte¬
rischen Reiz, wie er laum von einem anderen Werk dieses großen
Das Berliner Publikum, das vor
Sozialpoeten erreicht wird. —
15 Jahren in einer ausgezeichneten Aufführung (mit Steinrück
und der Eysoldt) völlig versagt hatte, ging diesmal begeistert mit —,
und das lag doch viel mehr am Wachstum von Shaws Autorität
als an Herrn Wendhausens Inszenierung am Deutschen Theater.
Die machte oft etwas leeren Lärm und war in Strichen und Zu¬
ätzen nicht sehr glücklich. Werner Kraus freilich machte mit
seiner trockenen Klorheit und prosaischen Würde einen unüber¬
trefflichen Cäsar, Else Eckersberg war nicht elementar, aber
doch eine schlichtere und liebenswürdige Königsgöre, als ich ge¬
hofft hatte. Der kleine Peter Eysoldt war reizend, Max
Gülsdorf als prähistorischer Gentleman erschütternd komisch
und Tini Senders als gefährlich gedunsene Reichsamme
wiederzusehen, war erfreulich. Aber in Nebenrollen gab es Un¬
zulängliches und Schlimmes das Schlimmste wohl durch einen
Herrn Rasp, der nicht einen „Dilettanken“, sondern a's Dilettant
spielte, nämlich jenen Sizilier, den damals der eben verstorbene
Alexander Eckert mit all seiner handfesten Liebenswürdig¬
keit verkörvert halte.
Tags darauf große Sensation im Kleinen Schauspielhause.
Trotz der vom Ministerium (das in der Hochschule für Musik
Hausrecht hat) erwirkten Hastandrohung spielte man helden¬
muß die schöne Ge¬
mütig Schnitzlers „Reigen“. Ich
Feinde
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über die
Entrüstung
moralischer
zu
legenheit
vorüber¬
unbenutzt
leider
Freiheit
1000
der Fkünstlerischen
aus
Plauderszenen
skeptische
Schnitzlers
gehen lassen.
und Leidenschaft hinbröckelnden
einer ohne Seele, Glauben
Reiz und geschicht¬
erotischen Kultur haben gewiß stilistischen
ich bin gewiß bereit
—
liches Interesse. Auf der Bühne hingegen
vor der Fähigkeit der Theaterleute, nichts zu begreifen, was
ihnen unbequem ist, die größte Meinung zu hegen; dennoch ver¬
mag ich nicht, ihnen zu glauben, daß sie glauben: die hundert¬
tausend Besucher, die bisher die „Büchse der Pandora“ gefüllt
haben, und nun ebenso oft in „Reigen“ gehen sollen, seien ge¬
kommen, um den dämonischen Verwirrungen des Wedekindschen
Geistes nachzuspüren, würden kommen, um Schnitzlers stilistische
Diese völlig undramatische Szenenreihe soll
Reize zu suchen. —
ein Geschäft werden, weil zehnmal bei verdunkelter Bühne ein
Geschlechtsakt vollzogen wird. Und jeder lügt, der behauptet, daß
die geschäftliche Grundrechnung anders sei! Aus diesem Grunde
bringe ich keinerlei protestierende Begeisterung auf, obwohl die
Inszenierung mit den Bildern von Ernst Stern wirklich ge¬
schmackvoll und diskret ist und einzelne Glieder der ineinander¬
gehakten Liebespaare auch schauspielerisch sehr amüsant waren.
Die geistig distanzierende Kraft in diesem lau=witzigen Sexual¬
studien ist doch allzu unsicher und leise, um in dem vergröberten
Licht der Bühne das rein Stoffliche des Gegenstandes über¬
winden zu können. Und ich meine, daß in der Kunst jede Art
von Sinnlichkeit ein schrankenloses Daseinsrecht hat, solange sich
an ihr die Form gebenden Kräfte der Seele und des Geistes
gestalten; erscheint das Sinnliche aber um seiner selbst willen,
o füttert man das Chaos, und das Geschlecht verdirbt den künst¬
Julius Bab.
lerischen Charakter.
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igen
Theater und Musik.
Geschlecht und Charakter.
Neulich sprachen wir hier von Wilde und Shaw. Eine noch
künftigere Gelegenheit, die beiden zu vergleichen, bietet die letzte
Theaterwoche, Oskar Wildes berühmtestes Bühnenspiel ist die ein¬
aktige „Sglome“. Mit raffiniertesten Farben gemalt, ein Bilk
vom Wesen der Ueberbultur; unfmichtbare unfromme Lebenskraft
rast in geschlechtlichen Verzückungen mörderisch daher. (Und solche
Rolle laßt sich selbstverstandlich Fräulein Orska auf die Dauer
uch Bernard Shaw weiß seihr gut, daß er¬
nicht entgehen.) —
starrende, unfruchtbar werdende Kulturen in geschlechtlichen Aus¬
sschweifungem verwildern. Aber nicht im mindesten reizt es seinen
Ehrzenz, dies Bild der Verwesung artistisch zu verklären. Wenn
ben ihm aus dem prachtvoll sbizzierten Geröll in tausendfachem
Aberglauben erstarrter ägyptischer Kultur ein heißer Quell weib¬
licher Lebenskraft hervorschießt — Kleopatra, ein Kind, ein Kätz¬
chen, ein Dämon, so treibt es ihn keineswegs, Kurven toller Sinn¬
lichkeit bewundeond nachzuzeichnen; er schreübt sein „Spiel für
Puritaner“ tm den tragikomischen Versuch eines Genies zu
zeigen, aus solch einem Geschöpf ein Weib, eine König'n und gar
S
□
einen Menschen zu machen. Seine ganze Liebe aber gehört dem
02 Cäsar. Und wenn der gut irische Spötter auch hier durchaus
anmerken muß, daß dieser Cäsar ein Mensch ist, der sich gern
reden hört und keineswogs gern an seine Jahre erinnert wird so
ist er für ihn nichtsdestoweniger der Inbegriff aller Genialität
das heißt, der Fähigkeit, nicht vom sinnlichen Affekt, nicht von
Haß und Liebe, sondern von den Dingen selbst das Gesetz der
Handelns zu empfangen. Wie hmmelhoch erhebt sich die Gestalt
dieses Cäsar über all die pazif'stischen Programmgedner, die wir
in diesen Jahrem vor und himter der Rampe anhören mußten. Er
weiß, daß Nache und Gewalt nie etwas anderes wie
neue Nache und Gewrlt in die Welt setzon, und er
weiß auch, daß ein Mensch, der das wahrhaft begreift,
werden
von ihr gekreuzigt
die Welt erobern, oder
muß. Er seinerseits ist befähigt und entschlossen sie zu er¬
obern, wobei er über lebensgefährliche Tiger auf seinem Wege
keineswegs wie ein moralischer Engländer zu Gericht sitzt, son¬
dern sie ganz einsach tötet. Worin sich seine ganze ungeheure sitt¬
liche Ueberlegenheit ausdrückt! Die Liebe zu dieser Gestalt gibi
Shaws „Cäsar und Kleopatra“ trotz ihrer geringen dra¬
matischen Spannung einen ununterbrochen wirksamen dichte¬
rischen Reiz, wie er laum von einem anderen Werk dieses großen
Das Berliner Publikum, das vor
Sozialpoeten erreicht wird. —
15 Jahren in einer ausgezeichneten Aufführung (mit Steinrück
und der Eysoldt) völlig versagt hatte, ging diesmal begeistert mit —,
und das lag doch viel mehr am Wachstum von Shaws Autorität
als an Herrn Wendhausens Inszenierung am Deutschen Theater.
Die machte oft etwas leeren Lärm und war in Strichen und Zu¬
ätzen nicht sehr glücklich. Werner Kraus freilich machte mit
seiner trockenen Klorheit und prosaischen Würde einen unüber¬
trefflichen Cäsar, Else Eckersberg war nicht elementar, aber
doch eine schlichtere und liebenswürdige Königsgöre, als ich ge¬
hofft hatte. Der kleine Peter Eysoldt war reizend, Max
Gülsdorf als prähistorischer Gentleman erschütternd komisch
und Tini Senders als gefährlich gedunsene Reichsamme
wiederzusehen, war erfreulich. Aber in Nebenrollen gab es Un¬
zulängliches und Schlimmes das Schlimmste wohl durch einen
Herrn Rasp, der nicht einen „Dilettanken“, sondern a's Dilettant
spielte, nämlich jenen Sizilier, den damals der eben verstorbene
Alexander Eckert mit all seiner handfesten Liebenswürdig¬
keit verkörvert halte.
Tags darauf große Sensation im Kleinen Schauspielhause.
Trotz der vom Ministerium (das in der Hochschule für Musik
Hausrecht hat) erwirkten Hastandrohung spielte man helden¬
muß die schöne Ge¬
mütig Schnitzlers „Reigen“. Ich
Feinde
2
über die
Entrüstung
moralischer
zu
legenheit
vorüber¬
unbenutzt
leider
Freiheit
1000
der Fkünstlerischen
aus
Plauderszenen
skeptische
Schnitzlers
gehen lassen.
und Leidenschaft hinbröckelnden
einer ohne Seele, Glauben
Reiz und geschicht¬
erotischen Kultur haben gewiß stilistischen
ich bin gewiß bereit
—
liches Interesse. Auf der Bühne hingegen
vor der Fähigkeit der Theaterleute, nichts zu begreifen, was
ihnen unbequem ist, die größte Meinung zu hegen; dennoch ver¬
mag ich nicht, ihnen zu glauben, daß sie glauben: die hundert¬
tausend Besucher, die bisher die „Büchse der Pandora“ gefüllt
haben, und nun ebenso oft in „Reigen“ gehen sollen, seien ge¬
kommen, um den dämonischen Verwirrungen des Wedekindschen
Geistes nachzuspüren, würden kommen, um Schnitzlers stilistische
Diese völlig undramatische Szenenreihe soll
Reize zu suchen. —
ein Geschäft werden, weil zehnmal bei verdunkelter Bühne ein
Geschlechtsakt vollzogen wird. Und jeder lügt, der behauptet, daß
die geschäftliche Grundrechnung anders sei! Aus diesem Grunde
bringe ich keinerlei protestierende Begeisterung auf, obwohl die
Inszenierung mit den Bildern von Ernst Stern wirklich ge¬
schmackvoll und diskret ist und einzelne Glieder der ineinander¬
gehakten Liebespaare auch schauspielerisch sehr amüsant waren.
Die geistig distanzierende Kraft in diesem lau=witzigen Sexual¬
studien ist doch allzu unsicher und leise, um in dem vergröberten
Licht der Bühne das rein Stoffliche des Gegenstandes über¬
winden zu können. Und ich meine, daß in der Kunst jede Art
von Sinnlichkeit ein schrankenloses Daseinsrecht hat, solange sich
an ihr die Form gebenden Kräfte der Seele und des Geistes
gestalten; erscheint das Sinnliche aber um seiner selbst willen,
o füttert man das Chaos, und das Geschlecht verdirbt den künst¬
Julius Bab.
lerischen Charakter.