II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 1116

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11. Reigen
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bresdener Volkezeitung
FAn
49auL.
Leben = Wissen = Kunst
Reigen
(Erstaufführung Residengtheater.)
Die Daseinsnotwendigkeit der Staatsanwälte wird bekannt
flich vielfach besttitten. Das ist für einen Stand immer ein Pech.
Seine Angehörigen fühlen sich dann gedrungen, ihre Wichtigkei
durch Taten zu erweisen. Unsre Staatsanwälte tun das bekannt¬
lich durch die eif#gste Verfolgung der Feinde der Republik. Noch
dringlicher aber scheift eszihnen, die Sittlichkeit der Deutschen zu
schützen. Sie könnesizsich sicht gut gewöhnen an den Gedanken, daß
es Männer und Fpäuensgibt, und daß die zuweilen etwas mit¬
einander haben. Ganz und gar nicht können sie es vollends er¬
tragen, daß das Etwas=miteinander=haben gewissermoßen, ja, wie
sag ich's meinem Kinde?, gewissermaßen
Also, sie haben Artur Schnitzlers Reigen, ein Schau¬
spiel in zehn Liebesszenen, mit einem schweren Prozeß verfolgt;
eigens hierzu bestellte Personen nahmen im behördlichen Auftrag
am Reigen Anstoß — denn das gehört zu einem solchen Prozeß
und dann begann das Schnellfeuer pünktlich und pathetisch. Denn
freilich, Schnitzler bringt das Etwas=miteinander=haben gewisser¬
maßen, hm
Nein, er bringt es nicht auf die Bühne! Oder höchstens so
wie man zuweilen Löwen oder Gespenster auf die Bühne bringt:
und dann fällt schnell
man richtet die Szenerie so her, als ob ...
der Vorhang, bevor man was gesehen hat. Der durchdringende Blick
eines Staatsanwalts aber nimmt seinen pflichtmäßigen Anstoß auch
durch den Vorhang hindurch. Und überhaupt. Es ist und bleibt
eine Cochonnerie! Man darf es eben nicht vor keuschen Ohren
nennen! Gott sei Dank, daß hier Palmströms Satz nicht gilt: nicht
kann sein, was nicht sein darf.
Die Staatsanwälte, die durchaus das gleiche Recht auf Irr¬
tum haben wie andre Leute, irren sich über den Reigen. Abgesehen
davon, daß tatsächlich hinter dem Vorhang keine, absolut keine
nicht Schnitzler gehört auf die Armsünderbank.
Löwen stecken —
Er stellt mit immerhin viel, in der vorletzten Szene sogar sehr viel
Geist dar, wie es zwischen Mann und Weib anfängt und fortgeht
und aufbrennt und abglüht und in Fremdheit endet; zwischen den
Männern und Frauen, die nicht viel mehr als den Geschlechtstrieb
von allen Antrieben des Daseins kennen. Das ist für etwas bessere
Gehirne zuweilen bei zehnmaliger Wiederholung langweilig, und
der sechzigjährige Schnitzler, der ein wundervolles Gehirn hat, würde
auch den Reigen des zwanzigjährigen schwerlich wiederholen.
Immerhin, auch in diesem Jugendwerk perlt es schon, und man
merkt: wenn dieser Dramatiker einmal den Pfropfen zieht, wird er
Champagner schänken.
Mehr als Champagner! Denn auch dies ist im Reigen:
Wiener Lust. Luft einer deutschen Stadt, die dem Geschlechtstrieb
mehr Aufmerksamkeit, mehr Lebenszeit widmet als jede andre, im
Spiel und Kampf der Geschlechter mehr Liebenswürdigkeit, Spann¬
kraft und Grazie, auch mehr Feingefühl und Ursprünglichkeit, mahr
Zurückhaltung und mehr Entschlossenheit aufwendet. Schnitzlers
Jugendstück kündet an: wenn dieser Dramatiker einmal auf andre
Eroberungen auszieht als den Reigen der Erotik, so wird er eine
Stadt, eine ganze Stadt mit all ihrer geschichtlichen, landschaftlichen,
geistig=seelischen Atmosphäre bezwingen.
— in jeder Szene wird ein
Mehr als das! Dieser Reigen
Partner der vorhergehenden im Spielkampf mit einem neuen
Partner gezeigt, bis zuletzt der neunte Partner wieder bei der
Dirne der ersten Szene anlangt —, dieser Reigen atmet unter Witz
und Drastik Melancholie. Er kündet den Denker an, der später die
Nichtigkeit und Vergänglichkeit, das tief Unzulängliche der bloßen
Triebbefriedigung mehr als einmal ins Bereich tragischer Gestaltung
heben sollte. Der europäisch=moderne Liebessitte mit bitterer Schärfe
beleuchten sollte. Und die sitzt dann freilich groß und sichtbar auf
der Anklagebank! Denn was sind all diese Szenen, an sich so über¬
zeugend lebenswahr und darum so unanstößig wie irgendwelche,
deren Inhalt jeder kennt, was sind sie andres als Spiegel einer nicht
nur entgeisteten und an Gefühl bitter armen Geschlechtlichkeit
das wäre noch hinzunehmen; nein, vor allem einer Geschlechtlichkeit
die sich trotz alledem andauernd, und so gänzlich grundlos, schämt
und von den sinnlosesten Wahnvorstellungen in Hast und Selbst¬
verdunkelung hineintreiben läßt, ja im Grunde ihre eigene Er¬
füllung, ihren Glanz und ihre Lust nicht kennt? Wofür bezeichnend,
daß allenthalben in diesem Reigen auf das vorhangverborgene Er¬
eignis Melancholie und auf jede Szene traurige Musik folgt.
Dieses Geräusch, das man da als Musik vorgespielt bekam,
war übrigens noch schlechter als die Aufführung. Und die war
schlecht genug. Langsarn, unsicher, bald plump und täppisch, bald
forciert und nichtssagend. Aus der Fülle dieser meist entgeisteten,
atmosphärearmen, weder erotisch beschwingten noch erotisch deut¬
lichen, keine Gegensätze und keine Dynamik hervorbringenden
Szenen haften nur zwei im Gedächtnis: Poldi Müller als
süßes Mädel neben dem Ehemann, wirklich süß und übrigens reich
an darstellerischen Einfällen und munterer Natur, und Gustav
Heppner als Graf in Uniform und in Zivil, beide Male Dar¬
steller einer einseitigen, aber in ihrer Art unübertrefflichen Cha¬
rakterstudie: das Ur=Männchen im dichten Hüll=Gewande der Kon¬
vention und des Alltags.
Das Publikum folgte der Sache mit diskreter Zurückhaltung
Dem Staatsanwalt zuliebe war das Haus ausverkauft, und das
ausverkaufte Haus verbat sich in einer Mischung zwischen aufrich
tiger Teilnahme und forcierter Scham, Angst vor Blamage und
verhaltener Entrüstung jeden Beifall. Ja, wir sind in Europa; wir
sind in Deutschland; wir sind in Dresden, und auch hier wacht das
Auge der Sitte — die Herzen, die es nicht entbehren können, dürfen
.
erst im Dunkel der Straße ihren Beifall herauslassen.