Wien, Samstag,
Nr. 78
28. März 1896,
Die Zeit.
Seite 203
haben. Er muss die Bühne vor sich sehen, wie die Schauspieler kommen
mus im philosophischen Sinne des Wortes. Das Bedürfnis, sich das
und gehen, erscheinen und abtreten. Aber er muss auch noch ein zweites
Leben durch eine innere Idee zu erklären, die unsere Handlungen mit
Gesicht haben, das ihn zugleich die Emotionen im Saale sehen lässt,
uns selbst und mit der Schöpfung übereinstimmt, kennt er gar nicht,
wie das Gefühl der Zuhörer auf jedes Wort und jede Geste der
ja versteht er offenbar gar nicht. Er wird nicht einmal den Vorwurf
Schauspieler reagiert. Darum braucht man ja auch zum Dramatiker
verstehen, den man ihm damit macht. Wie hätte man den Franzosen
eine besondere natürliche Gabe; man muss zum Dramatiker geboren
von 1830 beweisen wollen, dass die Lieder von Béranger mit ihrer
sein, man kann es nicht werden. Der gute Wille und die beste Schule
Mischung von Zote und Frömmigkeit eine Schande waren? Dem
nützen da gar nichts.
lieben Gott mit dem Glase in der Hand zuzutrinken und in derselben
Wie ist nun das Publicum beschaffen, das der Dramatiker von
Strophe die Güte des Allmächtigen und den Busen der Lisette zu
heute vor sich hat? Das ist die erste Frage, die sich jeder vorlegen
preisen, war damals an der Mode. Und noch der arme Heuri Murger
hat sich nicht geschämt, den lieben Gott mit Vergnügen zusehen zu
muss, der sich um die Zukunft unserer dramatischen Kunst bekümmert.
lassen, wie Rodolphe und Mimi sich küssen. Das sind Verirrungen,
Jede Theorie, die nicht mit dieser Frage anfängt, hängt in der Luft.
Die Antwort scheint zuerst sehr einfach zu ein. Unser Dramatiker lebt
die nur erklärlich sind, wenn aller Sinn der Worte in Verlust ge¬
in Paris, und er sieht um sich Pariser, wie er selber einer ist. Er
rathen ist, durch den Verlust aller philosophischen Ideen.
kennt ihren Geschmack und die Art ihres Geistes ganz genau, weil er
Die Pariser sind in dieser Beziehung noch immer dieselben. Sie
ja selber zu ihnen gehört. Aus so vielen einzelnen Menschen zieht er
singen jetzt nicht mehr Béranger, aber sie sind die richtigen Söhne
sich einen imaginären Zuschauer ab, der ihm sozusagen das ganze
der Väter, die diesen mittelmäßigen Sänger zum Nationaldichter er¬
Theater verkörpert. Die meisten dieser Pariser kommen ins Theater,
nannt hatten, und sie haben noch immer, lebendig und unvergänglich,
nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet haben. Nach fünf, sechs, ja
jene beiden Widersprüche in sich. Wer für das Theater schreibt, weiß
zehn Stunden der Mühe in einem Bureau, an der Börse oder in
das wohl und muss damit rechnen. Er weiß, dass der Pariser sich
einem Geschäft wollen sie sich jetzt unterhalten. Bietet man ihnen nun
unterhalten will, also darf er eine allzu ernste Stimmung nicht auf¬
eine sehr tief gedachte Komödie oder ein lyrisch überschwängliches
kommen lassen. Er weiß, dass der Pariser die „heiligen Gefühle“ ver¬
Drama dar, so ist es ja möglich, dass ein besonders starkes Talent sie
ehrt, also darf er den schuldigen Helden nicht siegen lassen. So stellt
bezwingt — wahrscheinlich ist es nicht. Man kann von diesen ermüdeten
sich für den Autor eine laue Moral her, die viel unmoralischer ist,
Gehirnen, die sich den ganzen Tag geplagt haben, nicht verlangen,
als es je die häfslichsten Paradoxe sein können. Ni mand wagt es, sie
dass sie sich auch abends noch plagen. Und wie viele Leute sind denn
herauszufordern, immer Alexandre Dumas ausgenommen, der mit
seinen Werken in ein eigenes Capitel gehört.
unter diesen glänzenden Frauen und diesen befrackten Herren überhaupt
Diesen allgemeinen Betrachtungen des Publicums, das den
fähig, ein rein literarisches Vergnügen zu fühlen? Um die glückliche
Wahl eines Wortes, Nuancen des Stiles, die Neuheit eines Gedankens,
Dramatiker beherrscht, ließen sich noch allerhand besondere Züge an¬
die Feinheit einer Aualyse zu schätzen, muss man schon eine ganz
fügen. Es gibt politische und religiöse Moden, mit denen der Dra¬
besondere und ungewöhnliche Erziehung genossen haben. Wie viele unter
matiker rechnen muss; sie wechseln ungefähr alle zwei, drei Jahre.
den Leuten, die in einem Theater sitzen, haben denn überhaupt seit
Länger dauert das Ansehen gewisser Schauspieler, welche die Autoren
zwanzig Jahren etwas anderes gelesen, als die Zeitungen und ein
zwingen, ihnen Rollen auf den Leib zu schreiben. In der That gibt es
paar Romane?
immer einen Herrn Soundso, der so beliebt ist, dass er den Erfolg
Wenn also der Pariser, der ins Theater geht, sich unterhalten
verbürgen kann. Dann bemühen sich die Dramatiker, seine Natur und
will und wenn ihm im allgemeinen eine höhere und literarische Unter¬
seine Mittel zu verstehen, um ihm eine passende Figur auf den Leib
haltung unzugänglich ist, so zeigt er sich auf der anderen Seite meistens
zu schneiden. Es wäre verlockend, den Einfluss beliebter Schauspieler
sehr fähig, die Geschicklichkeit des Autors in der Führung der Scenen,
auf die Phantasie der Autoren zu schildern; das könnte ein merkwür¬
in der Beobachtung und im Dialog zu beurtheilen. Die Geschicklichkeit
diges Capitel der Literaturgeschichte geben. Er braucht übrigens nicht
in der Führung der Scenen — denn unser Pariser geht von Kindheit,
immer ein schlechter zu sein. Schließlich mufs man doch sagen: Ein
an ins Theater, und so wenig er von Stil weiß oder sich auf Gedanken
Schauspieler, der dem Publicum gefällt und eine gewisse Dietatur
versteht, so sehr hat er die Mache und das Technische los. In der
gewinnt, könnte das nicht, wenn er nicht eben das geheime Ideal des
Beobachtung — denn das Gedränge und der heftige Kampf der In¬
Publicums verkörpern würde. Sein Spiel drückt also deutlich aus,
was die Menge dunkel empfindet. Es offenbart die Leidenschaften und
teressen erzieht jeden Pariser dazu, Menschen und Dinge rasch und
Sitten seiner Epoche. Wer also sein Spiel sich aneignet, nimmt den
sicher zu schätzen. Im Dialoge — denn unser Pariser ist selber ein
Blagneur, der sich aufs geistreiche Plaudern, auf die Kunst ironischer
Geist der ganzen Epoche in sich auf, und es kann nicht leicht ein ein¬
Worte versteht. Er hat gar kein Gefühl für das Poetische; es würde
facheres Mittel für den Dramatiker geben, um gewiss den Geschmack
ihm nicht einfallen, wie irgend ein Bewohner von London nach Indien
des Publicums zu treffen.
zu reisen mit einem Shakespeare und einer Bibel im Koffer. Dafür
hat er aber auch gar keine Vorurtheile, und da er sehr nervös ist,
Theater-Schlachten.
ist es ihm ein Bedürfnis, seine Erfahrungen auf der Bühne intensiv
Von Ernst von Wolzogen. (München.)
dargestellt zu sehen. Mit dieser positiven Art seines Geistes und mit
seiner Nervosität hängt es auch zusammen, dass er Zweideutigkeiten
Die Entwicklung des deutschen Theaterlebens während der letzten
und jene gemeine Heiterkeit liebt, die das menschliche Thier kitzelt.
Jahrzehnte hat dahin geführt, dass Berlin der einzige Kampfplatz
Wenn die Zweideutigkeiten nur flott sind und diese Heiterkeit einen
geworden ist, auf welchem die Scharmützel und großen Schlachten der
gewissen Geist hat, so ist dieser Zuhörer glücklich. Das alles weiß der
literarischen Cliquen und Parteien geschlagen werden. Berlin hat sich
Dramatiker: er weiß, dass es, um diesen Blasierten zu gefallen, die
diesen Vorzug allmählich erobert von der Zeit an, wo man, dem Bei¬
Hauptsache ist, sich als ein Virtuose der Mache zu zeigen, als Be¬
spiele des jüngeren Dumas folgend, auch in Deutschland anfieng, zeit¬
obachter zu verblüffen, in der Malerei der Leidenschaften keine Bruta¬
bewegende Fragen auf die Bühne zu bringen. Die eigenartig kritische
lität zu scheuen und den Dialog recht zu pfeffern; dann hat er seinen
Anlage des Berliners, welche ihn ein so großes Vergnügen daran fin¬
Erfolg in der Sische.
den lässt, überall mitzureden, sofort mit einem Urtheil bei der Hand
Wenn man bei uns ein paar Jahre lang ins Theater geht und
zu sein, immer das Neueste zu wissen und selbstverständlich besser zu
wissen als alle anderen, diese seine eigenthümliche Anlage machte ihm
das Publicum besonders bei Durchfällen beobachtet, nimmt man an
die neue Gattung des Thesenstückes ganz besonders wert. Während
ihm einen höchst seltsamen Widerspruch wahr. Die nämlichen Pariser,
man bisher in Berlin gerade so wie heute noch in Wien und fast
die für irgend einen schlüpfrigen Gassenhauer einer Operette schwärmen,
überall in der Provinz ins Theater gieng, einfach um sich zu amü¬
pfeisen jeden Autor aus, der es wagt, auf der Bühne die sogenannten
sieren oder um diese oder jene Lieblingskünstler in schönen Rollen zu
„heiligen Gefühle“ zu verspotten. Alexandre Dumas hat die ganze
sehen, so begannen jetzt bald immer mehr Leute aus Interesse für die
Kunst seiner beinahe fabelhaften Mache gebraucht, um seine visite de
auf der Bühne discutierten ethischen und socialen Fragen das Theater
— und was geschieht denn da schließlich, als dass
noces durchzusetzen
zu besuchen. Durch die starke Concurrenz der zahlreichen meist vortreff¬
darin der Ehebruch eine häfsliche und traurige Sache genannt wird,
lich geleiteten Privatheater vervollkommte sich der Stil der Darstellung
die so oft mit der Verachtung des Mannes und mit dem Hasse der
durch Aupassung an die auf jeder Bühne vorzugsweise gepflegte litera¬
Frau endet? Aber es war darin auch gesagt, dass die Liebe zuweilen
rische Gattung immer mehr, und es kamen auch ungleich mehr neue
nichts als eine gefährliche Albernheit ist, und die Liebe gehort nun
Dichter zu Worte als früher. Das Virtuosenthum unter den Schau¬
einmal zu unseren „heiligen Gefühlen“. So sind auch das „Vater¬
spielern hatte bald abgewirtschaftet, und die geschickten Macher unter
land“ und die „Familie“ zwei ewige Heiligkeiten, die das Publicum
den Autoren, die bisher neben den Classikern fast Alleinherrscher auf
von keinem Autor antasten lässt. Der Autor dagegen, der sie mit
einem echten oder heuchlerischen Enthusiasmus behandelt, kann immer
der Bühne gewesen waren, sahen sich auf ein Publicum zweiter Güte
angewiesen, während das Publicum erster Güte, welches an dem gei¬
der allgemeinen Begeisterung sicher sein. Kann es einen lächerlicheren
stigen Gehalt der neuen Stücke so lebhaften Antheil nahm, immer
Widerspruch geben? Ist es nicht eine Torheit, auf der einen Seite sein
größer wurde. Mit der Masse wuchs aber auch die Leidenschaftlichkeit
Land zu verehren und auf der anderen Seite alles zu verachten, was
dieses Publicums und zu den literarisch interessierten Leuten gesellten
die Größe eines Landes verbürgt: die Tugend der Männer, die Un¬
sich alle unruhigen Köpfe, Gewohnheits=Raisonneure, Specialisten für
schuld der Herzen, den Ernst des moralischen Lebens? Aber darnach
sittliche Entrüstung, Fexen aller Art und Scandalmacher von Profession
fragt der Pariser nicht, ob sich seine cynischen und seine lyrischen
hinzu. So entstand das heute mit Recht gefürchtete Berliner Premièren¬
Lannen vertragen. Der wesentliche Fehler unserer ganzen französischen
Publicum.
Rasse wird bei dem Pariser noch deutlicher: er hat gar keinen Idealis¬
Nr. 78
28. März 1896,
Die Zeit.
Seite 203
haben. Er muss die Bühne vor sich sehen, wie die Schauspieler kommen
mus im philosophischen Sinne des Wortes. Das Bedürfnis, sich das
und gehen, erscheinen und abtreten. Aber er muss auch noch ein zweites
Leben durch eine innere Idee zu erklären, die unsere Handlungen mit
Gesicht haben, das ihn zugleich die Emotionen im Saale sehen lässt,
uns selbst und mit der Schöpfung übereinstimmt, kennt er gar nicht,
wie das Gefühl der Zuhörer auf jedes Wort und jede Geste der
ja versteht er offenbar gar nicht. Er wird nicht einmal den Vorwurf
Schauspieler reagiert. Darum braucht man ja auch zum Dramatiker
verstehen, den man ihm damit macht. Wie hätte man den Franzosen
eine besondere natürliche Gabe; man muss zum Dramatiker geboren
von 1830 beweisen wollen, dass die Lieder von Béranger mit ihrer
sein, man kann es nicht werden. Der gute Wille und die beste Schule
Mischung von Zote und Frömmigkeit eine Schande waren? Dem
nützen da gar nichts.
lieben Gott mit dem Glase in der Hand zuzutrinken und in derselben
Wie ist nun das Publicum beschaffen, das der Dramatiker von
Strophe die Güte des Allmächtigen und den Busen der Lisette zu
heute vor sich hat? Das ist die erste Frage, die sich jeder vorlegen
preisen, war damals an der Mode. Und noch der arme Heuri Murger
hat sich nicht geschämt, den lieben Gott mit Vergnügen zusehen zu
muss, der sich um die Zukunft unserer dramatischen Kunst bekümmert.
lassen, wie Rodolphe und Mimi sich küssen. Das sind Verirrungen,
Jede Theorie, die nicht mit dieser Frage anfängt, hängt in der Luft.
Die Antwort scheint zuerst sehr einfach zu ein. Unser Dramatiker lebt
die nur erklärlich sind, wenn aller Sinn der Worte in Verlust ge¬
in Paris, und er sieht um sich Pariser, wie er selber einer ist. Er
rathen ist, durch den Verlust aller philosophischen Ideen.
kennt ihren Geschmack und die Art ihres Geistes ganz genau, weil er
Die Pariser sind in dieser Beziehung noch immer dieselben. Sie
ja selber zu ihnen gehört. Aus so vielen einzelnen Menschen zieht er
singen jetzt nicht mehr Béranger, aber sie sind die richtigen Söhne
sich einen imaginären Zuschauer ab, der ihm sozusagen das ganze
der Väter, die diesen mittelmäßigen Sänger zum Nationaldichter er¬
Theater verkörpert. Die meisten dieser Pariser kommen ins Theater,
nannt hatten, und sie haben noch immer, lebendig und unvergänglich,
nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet haben. Nach fünf, sechs, ja
jene beiden Widersprüche in sich. Wer für das Theater schreibt, weiß
zehn Stunden der Mühe in einem Bureau, an der Börse oder in
das wohl und muss damit rechnen. Er weiß, dass der Pariser sich
einem Geschäft wollen sie sich jetzt unterhalten. Bietet man ihnen nun
unterhalten will, also darf er eine allzu ernste Stimmung nicht auf¬
eine sehr tief gedachte Komödie oder ein lyrisch überschwängliches
kommen lassen. Er weiß, dass der Pariser die „heiligen Gefühle“ ver¬
Drama dar, so ist es ja möglich, dass ein besonders starkes Talent sie
ehrt, also darf er den schuldigen Helden nicht siegen lassen. So stellt
bezwingt — wahrscheinlich ist es nicht. Man kann von diesen ermüdeten
sich für den Autor eine laue Moral her, die viel unmoralischer ist,
Gehirnen, die sich den ganzen Tag geplagt haben, nicht verlangen,
als es je die häfslichsten Paradoxe sein können. Ni mand wagt es, sie
dass sie sich auch abends noch plagen. Und wie viele Leute sind denn
herauszufordern, immer Alexandre Dumas ausgenommen, der mit
seinen Werken in ein eigenes Capitel gehört.
unter diesen glänzenden Frauen und diesen befrackten Herren überhaupt
Diesen allgemeinen Betrachtungen des Publicums, das den
fähig, ein rein literarisches Vergnügen zu fühlen? Um die glückliche
Wahl eines Wortes, Nuancen des Stiles, die Neuheit eines Gedankens,
Dramatiker beherrscht, ließen sich noch allerhand besondere Züge an¬
die Feinheit einer Aualyse zu schätzen, muss man schon eine ganz
fügen. Es gibt politische und religiöse Moden, mit denen der Dra¬
besondere und ungewöhnliche Erziehung genossen haben. Wie viele unter
matiker rechnen muss; sie wechseln ungefähr alle zwei, drei Jahre.
den Leuten, die in einem Theater sitzen, haben denn überhaupt seit
Länger dauert das Ansehen gewisser Schauspieler, welche die Autoren
zwanzig Jahren etwas anderes gelesen, als die Zeitungen und ein
zwingen, ihnen Rollen auf den Leib zu schreiben. In der That gibt es
paar Romane?
immer einen Herrn Soundso, der so beliebt ist, dass er den Erfolg
Wenn also der Pariser, der ins Theater geht, sich unterhalten
verbürgen kann. Dann bemühen sich die Dramatiker, seine Natur und
will und wenn ihm im allgemeinen eine höhere und literarische Unter¬
seine Mittel zu verstehen, um ihm eine passende Figur auf den Leib
haltung unzugänglich ist, so zeigt er sich auf der anderen Seite meistens
zu schneiden. Es wäre verlockend, den Einfluss beliebter Schauspieler
sehr fähig, die Geschicklichkeit des Autors in der Führung der Scenen,
auf die Phantasie der Autoren zu schildern; das könnte ein merkwür¬
in der Beobachtung und im Dialog zu beurtheilen. Die Geschicklichkeit
diges Capitel der Literaturgeschichte geben. Er braucht übrigens nicht
in der Führung der Scenen — denn unser Pariser geht von Kindheit,
immer ein schlechter zu sein. Schließlich mufs man doch sagen: Ein
an ins Theater, und so wenig er von Stil weiß oder sich auf Gedanken
Schauspieler, der dem Publicum gefällt und eine gewisse Dietatur
versteht, so sehr hat er die Mache und das Technische los. In der
gewinnt, könnte das nicht, wenn er nicht eben das geheime Ideal des
Beobachtung — denn das Gedränge und der heftige Kampf der In¬
Publicums verkörpern würde. Sein Spiel drückt also deutlich aus,
was die Menge dunkel empfindet. Es offenbart die Leidenschaften und
teressen erzieht jeden Pariser dazu, Menschen und Dinge rasch und
Sitten seiner Epoche. Wer also sein Spiel sich aneignet, nimmt den
sicher zu schätzen. Im Dialoge — denn unser Pariser ist selber ein
Blagneur, der sich aufs geistreiche Plaudern, auf die Kunst ironischer
Geist der ganzen Epoche in sich auf, und es kann nicht leicht ein ein¬
Worte versteht. Er hat gar kein Gefühl für das Poetische; es würde
facheres Mittel für den Dramatiker geben, um gewiss den Geschmack
ihm nicht einfallen, wie irgend ein Bewohner von London nach Indien
des Publicums zu treffen.
zu reisen mit einem Shakespeare und einer Bibel im Koffer. Dafür
hat er aber auch gar keine Vorurtheile, und da er sehr nervös ist,
Theater-Schlachten.
ist es ihm ein Bedürfnis, seine Erfahrungen auf der Bühne intensiv
Von Ernst von Wolzogen. (München.)
dargestellt zu sehen. Mit dieser positiven Art seines Geistes und mit
seiner Nervosität hängt es auch zusammen, dass er Zweideutigkeiten
Die Entwicklung des deutschen Theaterlebens während der letzten
und jene gemeine Heiterkeit liebt, die das menschliche Thier kitzelt.
Jahrzehnte hat dahin geführt, dass Berlin der einzige Kampfplatz
Wenn die Zweideutigkeiten nur flott sind und diese Heiterkeit einen
geworden ist, auf welchem die Scharmützel und großen Schlachten der
gewissen Geist hat, so ist dieser Zuhörer glücklich. Das alles weiß der
literarischen Cliquen und Parteien geschlagen werden. Berlin hat sich
Dramatiker: er weiß, dass es, um diesen Blasierten zu gefallen, die
diesen Vorzug allmählich erobert von der Zeit an, wo man, dem Bei¬
Hauptsache ist, sich als ein Virtuose der Mache zu zeigen, als Be¬
spiele des jüngeren Dumas folgend, auch in Deutschland anfieng, zeit¬
obachter zu verblüffen, in der Malerei der Leidenschaften keine Bruta¬
bewegende Fragen auf die Bühne zu bringen. Die eigenartig kritische
lität zu scheuen und den Dialog recht zu pfeffern; dann hat er seinen
Anlage des Berliners, welche ihn ein so großes Vergnügen daran fin¬
Erfolg in der Sische.
den lässt, überall mitzureden, sofort mit einem Urtheil bei der Hand
Wenn man bei uns ein paar Jahre lang ins Theater geht und
zu sein, immer das Neueste zu wissen und selbstverständlich besser zu
wissen als alle anderen, diese seine eigenthümliche Anlage machte ihm
das Publicum besonders bei Durchfällen beobachtet, nimmt man an
die neue Gattung des Thesenstückes ganz besonders wert. Während
ihm einen höchst seltsamen Widerspruch wahr. Die nämlichen Pariser,
man bisher in Berlin gerade so wie heute noch in Wien und fast
die für irgend einen schlüpfrigen Gassenhauer einer Operette schwärmen,
überall in der Provinz ins Theater gieng, einfach um sich zu amü¬
pfeisen jeden Autor aus, der es wagt, auf der Bühne die sogenannten
sieren oder um diese oder jene Lieblingskünstler in schönen Rollen zu
„heiligen Gefühle“ zu verspotten. Alexandre Dumas hat die ganze
sehen, so begannen jetzt bald immer mehr Leute aus Interesse für die
Kunst seiner beinahe fabelhaften Mache gebraucht, um seine visite de
auf der Bühne discutierten ethischen und socialen Fragen das Theater
— und was geschieht denn da schließlich, als dass
noces durchzusetzen
zu besuchen. Durch die starke Concurrenz der zahlreichen meist vortreff¬
darin der Ehebruch eine häfsliche und traurige Sache genannt wird,
lich geleiteten Privatheater vervollkommte sich der Stil der Darstellung
die so oft mit der Verachtung des Mannes und mit dem Hasse der
durch Aupassung an die auf jeder Bühne vorzugsweise gepflegte litera¬
Frau endet? Aber es war darin auch gesagt, dass die Liebe zuweilen
rische Gattung immer mehr, und es kamen auch ungleich mehr neue
nichts als eine gefährliche Albernheit ist, und die Liebe gehort nun
Dichter zu Worte als früher. Das Virtuosenthum unter den Schau¬
einmal zu unseren „heiligen Gefühlen“. So sind auch das „Vater¬
spielern hatte bald abgewirtschaftet, und die geschickten Macher unter
land“ und die „Familie“ zwei ewige Heiligkeiten, die das Publicum
den Autoren, die bisher neben den Classikern fast Alleinherrscher auf
von keinem Autor antasten lässt. Der Autor dagegen, der sie mit
einem echten oder heuchlerischen Enthusiasmus behandelt, kann immer
der Bühne gewesen waren, sahen sich auf ein Publicum zweiter Güte
angewiesen, während das Publicum erster Güte, welches an dem gei¬
der allgemeinen Begeisterung sicher sein. Kann es einen lächerlicheren
stigen Gehalt der neuen Stücke so lebhaften Antheil nahm, immer
Widerspruch geben? Ist es nicht eine Torheit, auf der einen Seite sein
größer wurde. Mit der Masse wuchs aber auch die Leidenschaftlichkeit
Land zu verehren und auf der anderen Seite alles zu verachten, was
dieses Publicums und zu den literarisch interessierten Leuten gesellten
die Größe eines Landes verbürgt: die Tugend der Männer, die Un¬
sich alle unruhigen Köpfe, Gewohnheits=Raisonneure, Specialisten für
schuld der Herzen, den Ernst des moralischen Lebens? Aber darnach
sittliche Entrüstung, Fexen aller Art und Scandalmacher von Profession
fragt der Pariser nicht, ob sich seine cynischen und seine lyrischen
hinzu. So entstand das heute mit Recht gefürchtete Berliner Premièren¬
Lannen vertragen. Der wesentliche Fehler unserer ganzen französischen
Publicum.
Rasse wird bei dem Pariser noch deutlicher: er hat gar keinen Idealis¬