II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 288

Liebele
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Die Berliner Theatersaison 1895/96.
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Bei Hauptmann verschwindet der Held zum Nachtheil des Bühnen¬
effekts nur allzu leicht in der Masse. Er ist nicht der Motor, sondern
höchstens die Quintessenz der Masse. Schon in der äußeren Kompo¬
sition, deren technische Kunst mit Unrecht geläugnet wird, macht sich
dieses eigenwillige Bestreben des Dichters etwas monoton bemerk¬
bar. Das Vrespiel geht vorüber, ohne uns die Persönlichkeit des
Helden darzustellen. In sämmtlichen fünf Akten tritt der Held immer
erst mitten im Akt auf; bis dahin wird jedes Mal weit und breit
die Situation ausgemalt, aus der sich das Schicksal des Helden fort¬
entwickeln soll. Von einem Streben nach Konzentration und Konden¬
sation keine Rede; statt der oft vermißten Steigerung ein allzu
häufiges Retardiren und Repetiren. Anderseits bis in die letzten
Szenen des letzten Akts hinein, wie in Hauptmanns „Webern“,
immer neue Menschen, auf deren Dasein uns nichts vorbereitet hat.
Das Alles verwirrt und beunruhigt. Der wohlbedachten künstle¬
rischen Form, nach der diesen kühnen selbstschaffenden Dichter seine
evolutionistische Weltanschauung und Geschichtsauffassung muthig
ringen läßt, ist er wenigstens für das historische Genre noch nicht
Meister geworden Erscheint Wildenbruch mit seinem idealistischen
Heroenkult als ein abgewelkter Carlyle, so erscheint Hauptmann mit
seinem Verlangen, das Einzelne aus der Komplikation realer Ver¬
hältnisse zu erklären, als ein noch nicht reif gewordner Taine. Es
dürfte nicht schwer sein, für beide Arten dramatischer Kunstübung
in gewissen entgegenfließenden Strömen der neusten Geschichts¬
forschung Vergleichspunkte zu finden.
Neben dem Milieuthum ist es noch ein andrer moderner Zug,
der die äußere Bühnenwirkung in Hauptmanns „Bühnenspiel“ beein¬
trächtigt. Nur selten werden wir vor die Ereignisse selbst gestellt
Fast immer erhalten wir sie aus zweiter Hand, aus Berichten und
Meinungsäußerungen der Betheiligten. Das verwirrt nicht nur,
sondern ermüdet auch, zumal da es sich wiederholt. Man glaubt
durchwegs der Dichtung anzufühlen, daß sie im Zeitalter des Parla¬
mentarismus entstanden ist. Ein episches Element mit epischer
Breite lähmt die dramatische Spannkraft, und so erscheinen die
vereinzelten starken, aus tiefstem Grunde der Menschlichkeit ge¬
waltig heraufgeholten Aktionen doppelt „rüd“ und „unhold.“
So ist Hauptmanns Florian Geyer, freilich im ganz andern
Sinn als die deutschen Oberlehrerjambenstücke ein Lesedrama ge¬
worden. War Wildenbruch auf nichts andres erpicht, als aus
historischem Material Bühneneffekte herauszudestilliren, so sah Haupt¬