II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 1294

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ßen, mehr als eine bessere Hanswurstiade war es niemals
was man diesem außerordentlichen Schauspieler zudache
Jetzt hat ihn der neue Burgtheaterdirektor mit de
herztem Zugriff für das Hofburgtheater gewonnen. E
sagte sich: Ich will Raimund spielen, ich will das Volks
stück pflegen. Dieser ist mein Mann. — Jetzt wird es sio
zeigen, daß für einen Girardi gar keine neuen Rollen ge
schrieben werden brauchen, sondern daß sich in jeden
guten, wirklichen Volksstück eine Girardirolle findet. Zu
nächst kommt ja wohl Raimund in Betracht, auf desse
Eigenart Girardis weiches, österreichisches Wesen so außer
ordentlich paßt. Seinem berühmten Valentin wird jetz
der Künstler noch manche andere von Raimund erdacht
Gestalt anreihen können. Auch bei Nestroy wird er manch
dankbare Aufgabe finden. Was alles nicht sagen will, da
er in klassischen Stücken in der Tat anverwendbar sei
Warum sollte er et## nicht den Hi mnusikus Miller in
„Kabale und Liebe“ spielen können? Es würde an einen
Hofburgtheater gar nicht störend wirken, wenn er der
Miller mit einem leisen dialektischen Anflug spreche
ließe. Man hat in der letzten Zeit ohnedies — und siche
nicht mit Unrecht — darüber geklagt, daß am Hofburg
theater imfolge vieler Neuengagements von reichsdent
schen Schauspielern das spezifisch reichsdeutsche Spreche
allzu sehr überhand nehme. Mit Girardi wird ein starke
österreichischer Ton in das Haus kommen. Wir müssen ge
stehen: Wir wissen nicht, ob er reines Hochdeutsch zu spre
chen instande ist. Aber wir würden es gar nicht für ein
großes Unglück halten, wenn er es nicht imstande wäre.
Den Hauptnutzen, den die Gewinnung dieses Schau
spielers dem Hofburgti,eater bringen wird, etblicken wi
aber in dem Umstand, daß sich der neue Direktor dadurd
offensichtlich die Verpflichtung auferlegt, dem Volksstü¬
wieder einen breiteren Raum zu öffnen. Um das Volks
stück war es im Hofburgtheater in den letzten Jahrei
schlecht genug bestellt. Mancherlei, was Schnitzler schrieb
gab sich den Anschein des wienerischen Volksstückes. Abe
wie unwienerisch ist doch dieser Dichter im Grunde seine
Wesens, wie volksfremd ist doch seine Art zu denken, wi
ferne liegen doch unserem wirkliche, seiner Rasse durd
unübersteigliche Schranken des Blutes unzugängliche
Volke seine erklügelten, schwülen Probleme! Der neuerer
magyarischen Dichtung ist auf dem Burgtheater in de
letzten Zeit mehrfach Unterstind geboten worden, wahrlic
nicht zum Besten dieser Bühne. Nur für das deutsch
österreichische Volksstück ist nichts geschehen. Schönhern
Stücke, so treu und stark im Dialekt und in der Beibehal
tung bäuerlicher Umwelt, können in der literarischen Aus
gemessenheit ihrer Prohleme und in ihrer, von natürliche
Naivität meilenfernen Bewußtheit sicher nicht als Volks
stücke in wahrem Sinne angesprochen werden. Nein, in
Dichtungen dieser Art wird Girardi nicht zu verwender
sein. Er wird nur dann an seinem rechten Platze stehen,
wenn ihm seine Rolle gebietet, das wirkliche, echte Wesen
des österreichischen, deutschen, christlichen Volkes aufzu¬
zeigen, ein Wesen voll Treuherzigkeit, voll Gemütstiefe,
voll weicher Zugänglichkeit für Tränen und Lachen. Es
ist nicht einzusehen, warum Stücke, die in diesem Sinne
„Volksstücke“ sind, Stücke, die nicht bloß vom Volke son¬
dern aus dem Volke heraus sprechen, vom Hofburgtheater
verbannt und der Vorstadtbühne überantwortet sein soll¬
ten. Gewiß, das Fiakerlied braucht auf den Brettern des
Burgtheaters nicht gesungen zu werden. Daß Dudeln
und Schnalzen nicht die einzigen Ausdrucksmittel sind,
um deutschösterreichisches, oder im besonderen: wienerisches
Gemüt darzustellen, das zu beweisen wird jetzt Girardis
Aufgabe in seinem neuen Wirkungskreise sein. Und un¬
schwer kann es geschehen, daß die Berufung dieses Künst¬
lers an die erste Bühne des Reiches auch einen erfreulichen
Aufschwung der volksstückmäßigen Dichtkunst zur Folge
hat, daß sich nun ernste und wahre Dichter wieder dem
Volksstück zuwenden, dessen Betreuung in den letzten
Jahren im wesentlichen dem Herrn Vernhard Buchbinder
überlassen war.
Spät kommt die Berufung Girardis. Steht der
Künstler doch heute im 67. Lebensjahre. Wäre ein früherer
Direktor auf den Einfall gekommen (der so nahe lag, daß
man wohl besser sagen kann: hätte ein früherer Direktor
den Mut aufgebracht), so hätte sich der Künstler in der
Vollkraft seines Schaffens dem Hoftheater widmen kön¬
nen. Das ist nun freilich versäumt. Damit soll jedoch
nicht gesagt sein, daß die Berufung Girardis zu spät
komme. In den spätesten Früchten des Herbstes ruht ja
die größte Süßigkeit, sie wurden ja von der längsten
Sonne gereift.