Liebelei
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enenetetene e ene esetete
Nr. 23
Wien VI. — Prag u. MAUN Berlin W. 62
IX. Jahrgang
grunde, worüber die leichtere Auffassung rasch vorbei¬
einer Beethovenschen Sonate. Diese unerwartete
kommt.
Vielseitigkeit ihres Könnens überrascht den Fremden.
Dieser geradezu ideale Typus Schnitzlers ist mir
Der feine Geschmack in der Toilettenwahl der
die liebste von seinen weiblichen Schöpfungen. Die
Wienerin ist allbekannt. Die Natur hat sie meist
späteren verstehe ich wahrscheinlich nicht, weil ich
mit einem hübschen Fuß bedacht — ein Reiz, von
mit dem modernen Leben und seinen Erscheinungen
dem Goethe rühmt, daß er der Frau noch treu bleibe,
nicht gleiche Schritt halten kann. In sehr vielen
wenn sie alle anderen verlassen haben! — und sie
Wiener Romanen von Schnitzler, Bahr, Karlweis
versteht ihn zu bekleiden und fest und graziös auf
spieit der Ehebruch eine größere Rolle als glücklicher¬
den Asphalt des Straßenpflasters zu setzen.
weise im wirklichen Leben.
Die Wienerin wünscht immer nach de letzten
Die Wienerin aus dem Bürgerstande hat wenig
Mode gekleidet zu sein. Gestatten ihr ih littel
Gemeinsames mit der unverstandenen Frau der lite¬
nicht bei einem renommierten Schneider arbeiten zu
ratischen Darstellung. Sie ist eine ebensogute Haus¬
lassen, oder in einer „Konfektion“ zu kaufen, dann
frau, Gattin und Mutter, wie andere Frauen ihres
probiert sie auf gut Glück ihre Roben mit Hilfe
Standes in anderen Großstädten. Oft ist sie, im
von Modejournalen selbst anzufertigen. Eine Näh¬
wahren Sinn des Wortes „Gehilfin“ des Mannes,
maschine hat jede Wienerin und den Geschmack, das
oft im Erwerb, oft im Haushalt, zuweilen in beiden
ihr Zusagende zu, wählen, auch.
zusammen. Die Wienerin eignet sich gut zur Führung
Gelingt der neue Anzug, dann muß er auch am
eines Geschäfts, sie ist eine gute Rechnerin und
nächsten Sonntag ausgeführt werden. „Hinaus“ oder
gewandte Verkäuferin. In vielen Geschäften führt
„aufs Land“ muß die Wienerin; denn sie ist eine
sie auch die Bücher, zuweilen als Herrin, noch öfter
große Naturfreundin, Und die reizvolle Umgebung
als Angestellte, stets mit musterhafter Ordnung und
Wiens, zu der zahlreiche Schnellzüge führen, bietet
Pünktlichkeit. —
genug der lockenden Ausflüge. Also hinaus in den
Die Wienerin liebt eine gute Küche — der Wiener
„Wiener Wald“, hinauf auf den Kahlenberg, oder
ebenfalls! — und sie versteht gut zu kochen, oder
nach Dornbach, Döbling, oder nach Purkersdorf,
das Dienstmädchen dazu abzurichten. Die Speise¬
oder noch weiter nach Mürzzuschlag mit der Semme¬
stunde ist in bürgerlichen Häusern sehr verschieden,
ringbahn. Nach den Arbeitstagen der Woche die
Freuden des Sonntags!
sie richtet sich nach der Beschäftigung des Mannes
und dessen Rückkehr zum häuslichen Herd Da in vielen
Der Wiener ist aber nicht mehr der Repräsensant
Aemtern und Geschäften nur einmalige Frequenz
eines rücksichtslosen Genußmenschen aus dem vor¬
ist, wird der Magen zur Mittagstunde durch ein Gabel¬
märzlichen Wien; er ist ernster geworden, nach¬
frühstück beschwichtigt und der eigentliche Mittag¬
denklicher. Sein geheimes Ideal ist — die Alters¬
tisch erst um 3 bis 5 Uhr gedeckt.
rente, der Lohn arbeitsamer Jugendzeit. Und die
Wienerin teilt dieses und hilft zu dessen Verwirkli¬
Da in Wien die teuersten Artikel Dienstboten
chung redlich mit. Das ist das Eldorado, welchem
und Brennmaterial sind, begnügt man sich meisten¬
Eheleute zusteuern; nach der gemeinsamen Arbeit
teils mit nur einem „Mädchen für alles“, welchen,
und Tagen des Schweißes andere der Ruhe, des
falls die Frau auswärts beschäftigt ist, die nötigen
Friedens — ein sogenanntes „schönes Alter“.
Vorbereitungen in der Küche trifft. Kommt die Frau
Die Kinder sind versorgt, beteilt, die Alten fangen
aus dem Geschäft, Bureau, Atelier nach Hause, vollen¬
ein neues, sorgenloses Leben an, wieder zu Zweien!
det sie rasch das zur Mahlzeit Notwendige auf dem
Gas- oder Petroleumherd und macht dann ein wenig
in Ruhe und Heiterkeit verbringen zu können, int
Toilette.
eine durch und durch gesunde Lebensanschauung,
Denn die Wienerin vernachlässigt sich nie. Sie
welche auch in Wien an allgemeiner Ausbreitung
hat stets Zeit ihr Haar modern zu frisicren und ein
Antonie di Giorgi.
gewinnt.
reines Kleid oder wenigstens eine saubere Bluse
vor dem Mittagessen anzuziehen. Selbst im Alter
SBeM SOSABOISOA
strebt sie noch nach einem „chicen“ Aussehen. Man
sieht auch noch oft alte Frauen, deren Gang jugend¬
GRAPHOLOGIE
liche Elastizität bewahrt hat und die sich geschickt
durch die Menge bewegen und die Straßenübergänge
depen De B OPESDG
überschreiten, was oft nicht ohne Gefahr gestiehen
kann. Die Kondukteure der Elektrischen nennen
Es wurde uns in dieser Woche ein sehr liebens¬
soiche-Damen nur „Schnellseglerinnen.“
würdiger Brief von einer Dame zur Handschriften¬
beurteilung gesandt. Der Herr, der das Gutachten
Die Wienerin ist gesellig und gastfrei. Bringt
ihr der Mann einen Freund zum Mittagessen mit,
bestellte, wollte wissen, ob die Dame einen aufrich¬
tigen und verträglichen Charakter habe, ob sie
bereitet ihr das keine Verlegenheit. Sie bewirtet
selbstlos und ohne Launen sei, in welchem Fall er
den Gast so gut sie kann, gegen Ende der Mahlzeit
sie zu heiraten beabsichtigte. Die Schrift des An¬
entschwindet sie in die Region der Küche, bindet
fragenden war die eines vorsichtigen Menschen, ohne
eine weiße Schürze um und bringt, nach wenigen
viel Energie und von weichem Gemüt, der aber ver¬
Minuten, etwas Hochgetürmtes auf einer weißen
nunftgemäß klar denkt. Wäre er in die Dame sehr
Porzellanschüssel. Es ist der Triumph der „Wiener
Küche“ eine „Omelette aux confitures.“
verliebt, so hätte er wohl kaum von dem Graphologen
Rat geholt. Aber so konnte ihm die Graphelogie
Doch nicht bloß in materiellem Genuß läßt die
Wienerin ihren Gast versinken.
sagen, daß die liebenswürdige Dame eine kalte
selbstsüchtige Natur hat, die vermöge ihrer großen
Das geflügelte Wort vom „Phäakentum“ der
Verstellungskunst und Berechnung wohl oft im Leben
Wiener hat längst seine Giltigkeit verloren, Wissen¬
ihre Ziele erreicht hat, ohne daß ihre Umgebung
schaft und Kunst finden eine Heimstätte in Wien
dessen froh ward. Die kapriziösen Schnörkel und
und selbst Eingang ins Familienleben. Man hört
Häkchen der Damenschrift bewiesen ihre Launen¬
viel gute Hausmusik in Wien! Nachdem die fröhliche
Mahlzeit beendet, setzt sich die Wienerin ans Klavier
haftigkeit und unser Anfrager wurde vielleicht durch
die Graphologie vor einem chritt bewahrt, den er
und erfreut ihren Gast durch den anspruchslosen doch
gemütvollen Vortrag eines Schubertschen Liedes oder 1 später bereut hätte.
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Wien VI. — Prag u. MAUN Berlin W. 62
IX. Jahrgang
grunde, worüber die leichtere Auffassung rasch vorbei¬
einer Beethovenschen Sonate. Diese unerwartete
kommt.
Vielseitigkeit ihres Könnens überrascht den Fremden.
Dieser geradezu ideale Typus Schnitzlers ist mir
Der feine Geschmack in der Toilettenwahl der
die liebste von seinen weiblichen Schöpfungen. Die
Wienerin ist allbekannt. Die Natur hat sie meist
späteren verstehe ich wahrscheinlich nicht, weil ich
mit einem hübschen Fuß bedacht — ein Reiz, von
mit dem modernen Leben und seinen Erscheinungen
dem Goethe rühmt, daß er der Frau noch treu bleibe,
nicht gleiche Schritt halten kann. In sehr vielen
wenn sie alle anderen verlassen haben! — und sie
Wiener Romanen von Schnitzler, Bahr, Karlweis
versteht ihn zu bekleiden und fest und graziös auf
spieit der Ehebruch eine größere Rolle als glücklicher¬
den Asphalt des Straßenpflasters zu setzen.
weise im wirklichen Leben.
Die Wienerin wünscht immer nach de letzten
Die Wienerin aus dem Bürgerstande hat wenig
Mode gekleidet zu sein. Gestatten ihr ih littel
Gemeinsames mit der unverstandenen Frau der lite¬
nicht bei einem renommierten Schneider arbeiten zu
ratischen Darstellung. Sie ist eine ebensogute Haus¬
lassen, oder in einer „Konfektion“ zu kaufen, dann
frau, Gattin und Mutter, wie andere Frauen ihres
probiert sie auf gut Glück ihre Roben mit Hilfe
Standes in anderen Großstädten. Oft ist sie, im
von Modejournalen selbst anzufertigen. Eine Näh¬
wahren Sinn des Wortes „Gehilfin“ des Mannes,
maschine hat jede Wienerin und den Geschmack, das
oft im Erwerb, oft im Haushalt, zuweilen in beiden
ihr Zusagende zu, wählen, auch.
zusammen. Die Wienerin eignet sich gut zur Führung
Gelingt der neue Anzug, dann muß er auch am
eines Geschäfts, sie ist eine gute Rechnerin und
nächsten Sonntag ausgeführt werden. „Hinaus“ oder
gewandte Verkäuferin. In vielen Geschäften führt
„aufs Land“ muß die Wienerin; denn sie ist eine
sie auch die Bücher, zuweilen als Herrin, noch öfter
große Naturfreundin, Und die reizvolle Umgebung
als Angestellte, stets mit musterhafter Ordnung und
Wiens, zu der zahlreiche Schnellzüge führen, bietet
Pünktlichkeit. —
genug der lockenden Ausflüge. Also hinaus in den
Die Wienerin liebt eine gute Küche — der Wiener
„Wiener Wald“, hinauf auf den Kahlenberg, oder
ebenfalls! — und sie versteht gut zu kochen, oder
nach Dornbach, Döbling, oder nach Purkersdorf,
das Dienstmädchen dazu abzurichten. Die Speise¬
oder noch weiter nach Mürzzuschlag mit der Semme¬
stunde ist in bürgerlichen Häusern sehr verschieden,
ringbahn. Nach den Arbeitstagen der Woche die
Freuden des Sonntags!
sie richtet sich nach der Beschäftigung des Mannes
und dessen Rückkehr zum häuslichen Herd Da in vielen
Der Wiener ist aber nicht mehr der Repräsensant
Aemtern und Geschäften nur einmalige Frequenz
eines rücksichtslosen Genußmenschen aus dem vor¬
ist, wird der Magen zur Mittagstunde durch ein Gabel¬
märzlichen Wien; er ist ernster geworden, nach¬
frühstück beschwichtigt und der eigentliche Mittag¬
denklicher. Sein geheimes Ideal ist — die Alters¬
tisch erst um 3 bis 5 Uhr gedeckt.
rente, der Lohn arbeitsamer Jugendzeit. Und die
Wienerin teilt dieses und hilft zu dessen Verwirkli¬
Da in Wien die teuersten Artikel Dienstboten
chung redlich mit. Das ist das Eldorado, welchem
und Brennmaterial sind, begnügt man sich meisten¬
Eheleute zusteuern; nach der gemeinsamen Arbeit
teils mit nur einem „Mädchen für alles“, welchen,
und Tagen des Schweißes andere der Ruhe, des
falls die Frau auswärts beschäftigt ist, die nötigen
Friedens — ein sogenanntes „schönes Alter“.
Vorbereitungen in der Küche trifft. Kommt die Frau
Die Kinder sind versorgt, beteilt, die Alten fangen
aus dem Geschäft, Bureau, Atelier nach Hause, vollen¬
ein neues, sorgenloses Leben an, wieder zu Zweien!
det sie rasch das zur Mahlzeit Notwendige auf dem
Gas- oder Petroleumherd und macht dann ein wenig
in Ruhe und Heiterkeit verbringen zu können, int
Toilette.
eine durch und durch gesunde Lebensanschauung,
Denn die Wienerin vernachlässigt sich nie. Sie
welche auch in Wien an allgemeiner Ausbreitung
hat stets Zeit ihr Haar modern zu frisicren und ein
Antonie di Giorgi.
gewinnt.
reines Kleid oder wenigstens eine saubere Bluse
vor dem Mittagessen anzuziehen. Selbst im Alter
SBeM SOSABOISOA
strebt sie noch nach einem „chicen“ Aussehen. Man
sieht auch noch oft alte Frauen, deren Gang jugend¬
GRAPHOLOGIE
liche Elastizität bewahrt hat und die sich geschickt
durch die Menge bewegen und die Straßenübergänge
depen De B OPESDG
überschreiten, was oft nicht ohne Gefahr gestiehen
kann. Die Kondukteure der Elektrischen nennen
Es wurde uns in dieser Woche ein sehr liebens¬
soiche-Damen nur „Schnellseglerinnen.“
würdiger Brief von einer Dame zur Handschriften¬
beurteilung gesandt. Der Herr, der das Gutachten
Die Wienerin ist gesellig und gastfrei. Bringt
ihr der Mann einen Freund zum Mittagessen mit,
bestellte, wollte wissen, ob die Dame einen aufrich¬
tigen und verträglichen Charakter habe, ob sie
bereitet ihr das keine Verlegenheit. Sie bewirtet
selbstlos und ohne Launen sei, in welchem Fall er
den Gast so gut sie kann, gegen Ende der Mahlzeit
sie zu heiraten beabsichtigte. Die Schrift des An¬
entschwindet sie in die Region der Küche, bindet
fragenden war die eines vorsichtigen Menschen, ohne
eine weiße Schürze um und bringt, nach wenigen
viel Energie und von weichem Gemüt, der aber ver¬
Minuten, etwas Hochgetürmtes auf einer weißen
nunftgemäß klar denkt. Wäre er in die Dame sehr
Porzellanschüssel. Es ist der Triumph der „Wiener
Küche“ eine „Omelette aux confitures.“
verliebt, so hätte er wohl kaum von dem Graphologen
Rat geholt. Aber so konnte ihm die Graphelogie
Doch nicht bloß in materiellem Genuß läßt die
Wienerin ihren Gast versinken.
sagen, daß die liebenswürdige Dame eine kalte
selbstsüchtige Natur hat, die vermöge ihrer großen
Das geflügelte Wort vom „Phäakentum“ der
Verstellungskunst und Berechnung wohl oft im Leben
Wiener hat längst seine Giltigkeit verloren, Wissen¬
ihre Ziele erreicht hat, ohne daß ihre Umgebung
schaft und Kunst finden eine Heimstätte in Wien
dessen froh ward. Die kapriziösen Schnörkel und
und selbst Eingang ins Familienleben. Man hört
Häkchen der Damenschrift bewiesen ihre Launen¬
viel gute Hausmusik in Wien! Nachdem die fröhliche
Mahlzeit beendet, setzt sich die Wienerin ans Klavier
haftigkeit und unser Anfrager wurde vielleicht durch
die Graphologie vor einem chritt bewahrt, den er
und erfreut ihren Gast durch den anspruchslosen doch
gemütvollen Vortrag eines Schubertschen Liedes oder 1 später bereut hätte.
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