II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 47

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Jungösterreicher mit der subtileren Kultur und der
weltschmerzlich lächelnden Walzerstimmung ihrer Stadt
unseren bitterernsten Naturalismus bereicherten, und
sie haben sich unverändert frisch erhalten, obschon sie
heute das für moderne Literaturwerke bereits ehrwür
dige Alter von siebzehn Jahren aufweisen. Wir
hören noch immer mit Behagen die graziöse
weisheit der Dialoge an, in denen der „leichtsinnige
Melancholiken". Anatol und sein realistisch gesinnten
Freund Max ihre Erlebnisse und Anschauungen über
das unendliche Thema „Weib austauschen, währen
zwischen dem blasierten Schwärmer und dem ver¬
gnüglichen Skeptiker eine sympathische Reihe süßer
Mädel und mondener Frauen habinbüpft, als lebendige
Exempla, an denen ihre törichten und gescheiten
Doktrinen demonstriert werden. Diese Gespräche
schaukeln zwischen Novellette und Dramolet zierlich
hin und her, aber nachdem man schon früher mit ein¬
zelnen von ihnen gelungene Bühnenversuche angestellt,
ergab sich gestern, daß sie reich genug sind, auch die
Kosten eines ganzen Theaterabends zu bestreiten. Es
gab sogar in diesem losen Gefüge so etwas wie eine
dramatische Entwicklung, symbolisch dargestellt an
Anatols Schädel: der zeigte nämlich üppigen Haar¬
schmuck, als der Held so vieler kleiner Abenteuer
vor der „hypnotisierten Cora die „Frage an
das Schicksal, nämlich die
ihm treu sei, — lieber nicht stellt. Wir dürfen ihn,
also den Haarschmuck, noch ebenso üppig unter dem
Zylinder vermuten, unter dessen Schutz Anatol die
elegante Gabriele auf winterlicher Straße bei ihren
„Weihnachtseinkäufen" in ein pilantes Ge¬
spräch verwickelt. Aber er offenbart bedenkliche kleine
Lücken im „Abschieds souper, da die betrogenen
Betrüger sich gegenübersitzen. Er wird dünner und
dünner in der „Episode", da das eitle Männchen
erleben muß, daß ihn ein Weibchen radikal vergessen
hat. Und er ist zur leuchtenden Glatze mit einsam
sich schlängelnder Sardelle am „Hochzeits¬
morgen" geworden, da Anatol sein Bräutigams¬
bukett vor der rabiaten Ilona retten muß, mit der
er Abschiedsnacht gefeiert, bevor die Ehe ihn ein¬
heimst. Der Träger dieser tragischen Perückenfolge
war Heinz Monnard, der für den unsterblichen
Typus des liebenswürdigen Snob viel drollige Laune
und ein geschickt abgewogenes Quantum verliebter
Tumbheit aufbrachte. Wie die ganze Vorstellung des
Lessing=Theaters war auch dieser Anatol ein wenig
aufs Deutliche und Derbe gestimmt. Die Szenen
verlieren dadurch etwas von der zarten Lässigkeit ihrer
dekadenten Ironie, aber sie gewinnen dafür an
bühnenmäßiger Schlagkraft. Kam Herr Monnard
immerhin aus Wien, so stammte der Max von
Emanuel Reicher leider aus Budapest oder noch
ferneren südöstlichen Gegenden. Wie im Alter
(Herr Reicher kann sehr viel jünger aussehen) so in
den Manieren entfernte sich dieser Konsident all¬
zuweit von seinem Herzensfreund. Zu dem
Reigen der „Verschiedenen": der Cora, Annie,
Gabriele, Bianca, Ilona reichten
Fräulein Somary, Fräulein Lossen, Frau
Sussin, Fräulein Herterich und Frau
Triesch ihre sanften und temperamentvollen, zärt¬
lichen und kräftigen Hände. Mit besonderem
Frau Sussin, die sich im „Abschiedssouper" als be¬
schwipste Treulosigkeit von ausgelassenster Fidelität
nicht zuletzt auch als bewundernswerte Esserin mit herr¬
lich ungenierten Gewohnheiten einen wohlverdienten
Sonderapplaus holte.
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Zyklus
4.9. Anatol
Hochzeitsmorgen". Der armselige, nun schon
etwas liebesinvalide Held hat am Morgen seines
Hochzeitstages, am Morgen nach der letzten Freiheits¬
nacht, eine frühere Freundin bei sich. Die Schwierig¬
keit, sie los zu werden, die Wut der wilden Kleinen,
Anatols Angst, sie könnte die Hochzeit stören, bildet
den Inhalt dieser Episode. Die Verlegenheiten sind
geschickt gesteigert und da das kleine Stückchen so flott
gespielt wurde, erkämpfte es sich seinen Beifalls=Ertrag,
trotz der im Hause bereits eingetretenen allgemeinen
Ermüdung
Die Anatol-Szenen wurden überhaupt recht frisch
gespielt und waren von Emil Lessing mit vielem Ge¬
schmack inszeniert. Freilich waren die Vertreter der
beiden Hauptrollen für ihre Aufgaben geistig zu reif¬
Herr Monnard war mit allem Geschick bestrebt, den
41910
weichen, schleppenden Ton des dekadenten Wiener Gigerl
zu treffen wie er im Aeußern das Wesen charakterisierte
Herr Reicher, der vor zwanzig Jahren an der ersten
Berliner Börsen Courier,
Aufführung eines dieser Stückchen mitwirkte und also
aus Pietät wieder mittat, gab den liebenswürdigsten
par
Morgenausgabe
Räsonneur, aber man sträubte sich gegen die Annahme,
daß diese beiden wuchtigeren Darsteller sich andauernd
mit derlei Primaner= oder Studenten=Liebeleien ernst¬
haft befassen. Frl. Somary war flott und frisch im
Vor den Kulissen.
ersten Stückchen, Frl. Lossen wollte aus der kleinen
Das Lessing=Theater, das uns bald Arthur Rolle im zweiten mehr herausschlagen, als sie bietet
der Zettel verzeichnet übrigens hier wieder den
Schnitzlers neuestes Werk darbieten will, brachte uns
Im „Abschieds¬
Max, der aber gar nicht erscheint.
gestern sei ältestes. An die zwanzig Jahre sind die
souper bewährte Frl. Sussin sehr viel Geschick
Anatol-Szenen alt, seit achtzehn Jahre liegen sie
im Druck vor, der Autor ist längst und hoch über die und überlegene Sicherheit — die Nawetät nur
fehlte, die diesem Stücken das Verletzende
Entwicklungsphase hinausgewachsen, der jene Skizze
entstammen, und gestern erst wurden sie auf einer nimmt. Die kleine Szene der Zirkus=Bianca im
vierten Stückchen lag Frl. Herterich recht gut und
Berliner Bühne, zu einem Strauß gebunden, einer
die Ilona gab denn Frau Irene Triesch Gelegen¬
verständnisvoll empfänglichen Zuschauerschar vor
heit, ihre erstaunliche Vielseitigkeit zu bewähren.
gesetzt. Nicht alle sieben freilich, aber doch fünf, die
Diese temperamentsprühende kleine Frau, anschmieg¬
den Zeitumfang eines Theaterabends gerade füllen
sam und schmeichelnd wie ein Kätzchen, ungebärdig
Zwei dieser kleinen, pikanten Dialoge und
wie eine Wildkatze, ist das wirklich unsere reichbeseelte
Szenen sind hier schon früher gespielt worden. „Di
Ibsen=Darstellerin, wirklich die geistgetragene Jeanne
Frage an das Schicksale im Residenz=Theater, re, wirklich die Priesterin im Tempel unserer klassi¬
mit Jarno als Anatol, das „Abschiedssouper" wurde
schen Dichtung
hier sogar viel und oft und auf sehr vielen Bühnen
Der ganze Anatol-Abend ist als eine hübsche
gegeben, mit Hansi Niese, mit Gisela Schneider=Nissen
Studie zur Kenntnis von Schnitzlers Entwick¬
mit der Sorma sogar, und mit der ersten Dar¬
stellerin der Rolle, mit Adele Sandrock. In ihrem ung, nicht als Charakterisierung Schnitzlers an¬
Zusammenhange erst, in ihrer Geschlossenheit, geben zusehen. Derlei auf einen ironisch-pessimistischen
Ton gestimmte Jugendarbeiten haben viele unserer
die fünf von den sieben Anatol-Szenen ein Bild de¬
jugendlichen Verfassers, des Arthur Schnitzler von Dramatiker einmal veröffentlicht. Sudermanns
Geschichten „Im Zwielicht" sind den Schnitzlerschen
1890 oder 1891.
Nur daß uns hier
Skizzen nahe verwandt.
Daß die fünf kleinen Schöpfungen weder einzeln
manche aus Uebermut in Wehmut, aus Wehmut in
Dramen irgendwelcher Art bilden, noch insgesamt zu
recht
Uebermut umspringende Momente
einem einheitlichen Stück sich zusammenschließen, ob¬
Wienerisch anmuten, wie Straußische Melodien.
wohl die zwei männlichen handelnden oder sprechen¬
Nur daß der „leichtsinnige Melancholiker Anatol die
den Personen dieselben bleiben und auch die
weiblichen nur die Namen wechseln, das würde Züge des jungen Schnitzler zeigt. Dem ge¬
reiften Schnitzler von heute werden wir an gleicher
dem Erfolge wahrlich keinen Eintrag tun. Gerad¬
Stätte bald wieder begegnen.
J. L.
unsere Zeit hat ja eine fast krankhafte Vorliebe
für alles was von der Norm, vom Gewohnten ab¬
weicht. Aber die immer wieder, immer aufs Neue sich
wiederholenden Gespräche über das Thema Liebe er¬
müden — oder eigentlich über das Thema „Lie¬
belei“. Denn erste, flüchtige Entwürfe zum erfolg¬
reichsten Stück Schnitzlers, zu „Liebelei", stellen diese
Szenen dar: Erste Skizzen zu dem später so vor¬
trefflich, so meisterlich ausgeführten Porträt des
süßen Mädels. Die Gespräche sind
Wiener
jedesmal durch ein pikantes Beispiel, durch
ein psychologisches Experiment belebt, aber die
manieriert pessimistische Weltanschauung, die in diesen
Gesprächen und Beispielen sich kundgibt, ist nirgends
Extrakt von Leben und Erfahrung, sondern überall
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