II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 179

perg, dann zugänglich sind, wenden sie ihre Ge¬
fühle jenen freieren Damen zu, die außerhalb der Gesell¬
schaft stehen oder den Mädchen des „Volkes" (zur Unter¬
scheidung von „Gesellschaft“). Im ersteren Fall bleibt es
meistens beim Flirt. Im letzteren Fall ereignet es sich aber
wohl manchmal, daß dort, wo der Mann nur an Liebellei
denkt, das junge Mädchen wirkliche Liebe spendet. Die Kon¬
flikte und Katastrophen, die sich dann ergeben, hat Schnitzler
in seinem Schauspiel „Liebelei" behandelt. In den „Anatol¬
Szenen bleibt er aber jedem Ernst fern. Die „Flammen“,
die Anatol bis zum Hochzeitsmorgen entzücken, quälen, pei¬
des beiden, so wenig wie er selber erotische
Leidenschaft. Sie haben nur die erotische Phantasie. Das
Herz kommt nicht in Frage, nur die Sinne. Sie sind
Schmetterlingsnaturen. Sie haben nur Oberfläche, keine
Tiefe. Und verfolgt man Schnitzlers gesamte Produktion
aufmerksamen Blickes, so muß man zu der Einsicht kommen,
daß sein Schauspiel „Liebelei“ ein Zufallsfund war. Er lag
in der Richtung seines Weges, nicht eigentlich aber seiner Ab¬
sichten. Jedenfalls lassen all seine späteren Schauspiele den
Zug ins Große und Tiefe vermissen, der hier vorhanden war.
Aber auch die bestechende Leichtigkeit der Anatolszenen hat
er in ihnen nicht mehr. Sie ist durch Spitzfindigkeit in der
Behandlung der Probleme ersetzt; ihr Geist und ihr Witz haben
nicht mehr die Unwillkürlichkeit, die feuilletonistische Bra¬
vour dieser Szenen, die mit der starken Neigung zur fau¬
nischen Pikanterie, die ihm immer geblieben ist und die am
stärksten in der Szenenreihe des „Reigens hervortrat,
einigermaßen zu versöhnen vermag.
Wien ist, wie Paris und wie Kopenhagen, die Stadt der
feuilletonistischen Causerie. Auch die dortigen Bühnen stehen
vielfach unter diesem Zeichen. Etwas Ähnliches, als Musset
einst Paris gab, erstrebte Schnitzler für Wien, als er die
Anatolszenen schrieb. Nimmt man Voltaires alte seine De¬
finition der Liebe: „Stoff der Natur, den die Einbildungs¬
kraft mit Stickerei verziert hat", so findet man in Mussets
wie in Schnitzlers Dramolets oft die Stickerei so verschwende¬
risch, daß sie den Stoff kaum noch hindurchschimmern läßt.
Aber es ist doch ein großer Unterschied festzustellen. Musset
war ein Dichter. Schnitzler ist nur ein Halbdichter, dessen
gloriaseidene Eleganz, dessen Talmi=Lyrik und Sentimentali¬
tät nur für Momente zu täuschen wissen. Er belustigt und
unterhält wie einer; er ist nachdenklich genug, um hier und
da zur Nachdenklichkeit zu stimmen, aber diese Nachdenklich¬
keit ist nur ein leichter Katzenjammer. Und er ist schnell
genug zur Hand und gibt den Wünschen der Zuschauer nur
zu gern nach, dies Gefühl rasch wieder zu verscheuchen. Diese
Nachdenklichkeit gehört nur wie eine Gewürzprise zu seinen
Hautgout=Gerichten. Wie sehr ihm die große Gestaltungs¬
kraft fehlt, zeigt seine Vorliebe für kleine Szenen, die er
dann — wie im „Anatol", wie später im „Reigen“ — unter
einem Gesichtspunkt zusammenfaßt. Auch in dieser Be¬
ziehung meistert er nur das Surrogat.
Anatol ist ein junger Lebemann, der sich beschönigend
einen leichtsinnigen Melancholiker nennt. Seine Liebesaben¬
teuer sind ebenso banal, wie unterhaltsam: d. h. für den, der
nicht viel nachzudenken liebt. Und wer liebt heute nach¬
zudenken? Eigentlich steht Schnitzler im Anatol auf dem
Paul de Kock=Standpunkt. Das süße Mädel aus der Vor¬
stadt, die neugierige Frau eines Freundes, die Balletratte,
die Zirkusgöttin, die temperamentvolle Modistin: sie huschen
leichten Fußes, leichten Sinnes durch die fünf Situationen,
die in den Anatolszenen vergegenwärtigt werden. Gespiegelt
in der spielerischen Liebe dieser Mädchen, goutiert Anatol,
der Lebemanntyp von heute, sich selbst, ein zweiter Narziß.
Das ist ein Zug weiblich=weichen, eitlen Empfindens, der
einer faden Anmut nicht entbehrt. Die tragischen Kalami¬
täten des Lebens werden mit einem „Ah bah“=Lächeln unter¬
drückt, die Moral wird mit einem Wielandschen Lächeln und
Knix umgangen. Muß etwas Unschönes in den Kauf ge¬
nommen werden, so wird ein weicher und glänzender Schleier
darüber geworfen. Was gilt die Wahrheit, wenn man geist¬
reiche Einfälle hat? Und schließlich: es ist ja alles nicht so
schlimm. Anatols Geliebten werden ihm gute Freun¬
dinnen, deren er mit Dankbarkeit und Gefühl gedenkt. Er
heiratet, wie man schließlich heiraten muß; aber als Artist
des Lebens wird er auch späterhin mit all seiner Kultur,
Sensibilität und Reflektiertheit die Galanterie pflegen, als
to
4.9.
Zyklus
die allein er die Liebe versteht, gewürzt mit leichter Korrupt¬
heit und mit einigen Sentimentalitäten und Verzagtheiten.
Das ist der Ausklang der Szenenreihe, die so bezeichnend für
unsere allem künstlerischen Ernst, aller ethischen Tiefe ab¬
geneigte genießerische Zeit ist.
Nach alledem kann man nicht gerade behaupten, daß das
Deutsche Schauspielhaus mit dieser mondänen Schnitzeljagd
eine verdienstliche Bereicherung seines Repertoires erzielt
hätte. Eher vielleicht eine Bereicherung der Kasse. Sie ist
ja freilich ein so maßgebender Faktor, daß alle grämlichen
Rücksichten schweigen müssen. Überdies empfand Hagemann,
der ja auch vom Feuilletonismus herkommt, vielleicht eine
kleine Schwäche für diese Szenen; jedenfalls hatte er sie mit
vieler Hingebung und teilweise auch mit großem Ge¬
schick inszeniert. Die Interieurs waren z. B. eine Muster¬
kollektion des modernen Wiener Geschmacks, süßlich, leicht,
spielerisch, aber gerade darum stark charakteristisch. Ent¬
scheidender für die Wirkung auf das Publikum aber war noch
jene Anordnung der Regie, die in der stark sentimentalen
Weihnachtsszene einen wirklichen mit zwei stampfenden
„Rössern“ bespannten Fiaker auf die Bühne kommen ließ.
Das ging in seiner Wirkung noch über den Fjorddampfer,
der einst den Erfolg der „Frau vom Meere entschied, und
erinnerte beinahe an den Hund des Aubry. — Die Darstellung
war vortrefflich, leicht, fein, wienerisch-graziös. Heinrich
Lang war als Anatol von überzeugender Einheitlichkeit, von
bezaubernder Feinheit, der wahre Erotiker, der immer
schwärmt und bei aller Zweifelsucht den Frauen gegenüber
immer Optimist bleibt. Elsa Valéry, Eugenie May, Olla
Bauer, Tony Heydorn und Marie Elsinger zeichneten die
weiblichen Typen, die ihn nacheinander bezaubern, mit Glück
und Geschick. Am temperamentvollsten, zugleich wienerisch¬
anatolisch am überzeugendsten, war Olla Bauer in ihrer
Wiedergabe des Theatermädels („Abschiedssouper"). Eine
echte Wiener Pflanze Hermann Wlach gab den Max im
allgemeinen zutreffend, aber nicht ganz ohne Gezwungenheit.
Gustav Kallenberger (Kellner) und Emil Stettner (Diener)
waren in ihren kleinen Rollen sehr belustigend.
Das Publikum unterhielt sich vorzüglich, erheiterte sich
sehr und war dementsprechend ungewöhnlich freigebig mit
seinen Beifallskundgebungen.
Iven Kruse.
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