II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 231

box 8/6
4.9. Anatol
Zyklu-
zwei Jahren beschieben, den
redten Lobsprüche, die man ihm zollte, aus innerstem, wahrstem Her¬
zen kamen. Es ist eine alte Wahrheit: je weniger jemand bedeuten
will, desto mehr bedeutet er bei den anderen. Das traf auch auf ihn
in vollem Umfange zu. Aeußerlich ein stilles Leben führend, war er
reich an inneren Gaben. Ueber alles und jedes konnte man mit ihm
sich unterhalten. Eine besondere Freundin war ihm die Musik, sein
Trost und seine Stärke in trüben Stunden, und Leid blieb ihm nicht
erspart. Der einzige Sohn wurde ihm entrissen, schwere Krankheit
Ballerinen, deren Hauptnahrung Austern und Sekt bilden, bald
Damen der großen Welt, die zufällig schon einem anderen gehören¬
bald verlorene Kinder, die nur Unsterbliche mit feurigen Armen zum
Himmel erheben, — kurz alle Welt, soweit sie weiblich und vornehm¬
lich Halbwelt ist.
Wer ertrüge diesen unsauberen Reigen, diesen halbkomischen
Totentanz der Liebe, wenn Schnitzler seinem Anatol nicht etwas von
Neues Schauspielhaus.
seiner eigenen Seele mitgegeben hätte. Anatol ist nämlich eine Ar¬
Dichter, oder sagen wir gerechter: ein Dichterling. Und darum
Anatol von Arthur Schnitzler.
sieht er die Weibchen nicht wie sie sind, sondern wie er sie
Dramatiker, verzaget nicht! Es kann vorkommen, daß ein be¬
sehen möchte. Er adelt sie kraft seiner Phantasie; es sind
schränkter Bucherfolg nahezu zwanzig Jahre braucht, um ein großer
silberne (bisweilen auch recht irdene) Schalen, in die er goldene Früchte
Theatererfolg zu werden. Schnitzlers „Anatol beweist es. Dieses legt. Wer in den Zauberborn seiner Stimmung hinabtaucht, erhält
Bändchen dialogisierter Plaudereien, die jetzt überall Kasse machen,
dort Eigenart, Farbe, Form, Geist von seinem Geist. Seine Träume
erschien bereits im Jahre 1892 und wurde damals eigentlich nur
geben den Gefallenen ihre Jungfräulichkeit zurück und sprechen die
von der literarischen Jugend beachtet, weil es selbst aussah wie eine
jenigen heilig, die in seinen Armen gelegen... Natürlich ist der
Kundgebung jener Jugend, die noch nichts besitzt, aber die Möglich¬
Weibsnarr in dieser Reinkultur eine Seltenheit, vielleicht sogar eine
keit hat, alles zu erwerden. Ein junger Wiener Arzt, rannte man
Unmöglichkeit. Aber Anatol ist auch gar kein Personen¬
sich in den Cafés zu, hat dieses kecke Buch geschrieben und ein noch
sondern ein Sammelname, ein Begriff. Man könnte sagen, daß alle
viel jüngerer Dichter namens Hugo von Hofmannsthal, der seine
Männer etwas von Anatol an sich haben — ebenso freilich wie
Gymnasiastenstreiche hinter dem Pseudonym „Loris" versteckte, hat es von seinem Gegenbilde, dem nüchternen, skeptischen, spöttischen Freunde
durch ein entzückendes Altwiener Gedicht bevorwortet. Wer in jenen
Max, dem Mephistopheles dieses Faust, der ein so großer Realist ist
Tagen der Entdeckerfreude selber jung war, hoffte und ahnte —
und die Dinge nimmt, wie sie sind. Wir alle sind ein Produkt von
nein, wußte, daß hier Verheißungen vorlagen, die die Zukunft
Anatol plus Max, nur in tausenden Abwandlungen. Wobei Max
einmal glänzend einlösen würde. Zwar auch das wußten wir, daß mehr die Jahre der Reise, Anatol die haltlose, schweifende Jugend
„Anatol" kein Drama war; es waren nicht einmal Dramolets,
repräsentiert.
sondern nur sein pointierte Abenteuer eines Wiener Viveur¬
Die sieben nahverwandten Anatolchen des Buches hielte man in
mit höchst ergiebigen Gesprächen über das unerschöpfliche Thema,
szenischer Auseinanderfolge nicht gut aus, daher ist die Beschränkung
Aber wie war das alles gemacht oder, da man dergleichen nicht
der Aufführung auf fünf sehr zu loben. Gleich der erste Einakter
macht, wie war es alles glücklich konzipiert und niedergeschrieben:
Die Frage an das Schicksal, versetzt den Hörer durch
Die Komödie unsrer Seele,
seine Neuartigkeit in die beste Stimmung. Anatol zweifelt an
Unsres Fühlens Heut und Gestern,
der Treue seiner Cora; er versetzt sie in hypnotischen Schlaf
Böser Dinge hübsche Formel,
und hätte nun „eine Frage frei an das Schicksal". Aber, wie
Glatte Worte, bunte Bilder,
die Menschen einmal sind, hat er die schönen Illusionen doch
Halbes, heimliches Empfinden ...
lieber als die Wahrheit und — läßt das Schicksal ungefragt.
So viel leise Gedachtes und Gefühltes hatte hier seine Sprache
Er tut recht daran, denn als Cora aufwacht, ist sie voller Unruhe,
gefunden. Eine Sprache, die deutschen Klang, aber französischen daß sie im Schlaf etwas aus der Schule geplaudert haben könnte.
Rhythmus hatte. Ein heikler Vorwurf war ohne jede Frivolität be¬
Die „Weihnachtseinkäufe sind vielleicht das bühnen¬
schwächste, poetisch aber stärkste Stücklein des Zyklus. Es spielt
handelt worden, mit einer wohlerzogenen Zurückhaltung und Grazie,
die die Galanterie der Rokoko=Kavaliere wiederaufleben ließ. Dieser
mitten auf der Straße. Anatol will ein Angebinde für seine Ge¬
Vollblutwiener sprach nicht nur „fast wie ein Franzos", er tat es auch den
liebte kaufen, und Frau Gabriele, die flirtende, aber tugendstrenge
Weltdame, bietet ihm mit nur schlecht maskierter Eifersucht ihre Hilfe
besten gallischen Meistern an Esprit und Geschmack gleich, mochte man
nun an Musset, Prévost, Lavedan, Hervien oder Mirbeau denken
dazu an. Sie läßt sich von dem „süßen Mädel" erzählen,
Und dazu war sein Held, dieser Schlingel von Anatol, ein immer von dem wir hier zum ersten Mal in der Literatur einen
förmlichen Steckbrief erhalten, wird darüber sehr nachdenklich
hin neuer Typ, mit seinen schlanken Dichterhänden aus dem Nichts
der Einbildungen geholt und gestaltet. Ein sobistischer Don Juan:
und überreicht ihm schließlich ihre Blumen als Geschenk für die
in sinnerlicher, halb schwermütiger, halb leichtsinniger Weibernarr
Glückliche mit den Worten: „Sagen Sie ihr, diese Blumen, mein
der nie zur Liebe fähig, stets aber zur Liebelei aufgelegt ist, der süßes Mädl, schickt Dir eine Frau, die vielleicht ebenso lieben kann,
mmer neue Amouren sucht und in jeder nur eine neue wie Du, und die den Mut nicht dazu hatte!" Also ein Stück der
Enttäuschung findet. Er leidet an einer ständigen Herzens¬
Sehnsucht, das doppelt wohltut in diesem Milieu allzu rascher Er¬
ntzündung. Die Krankheit ist chronisch, aber ihre Ursachen wechseln
füllungen. „Episode" ist eine reizende Ironie auf den Mann,
bald sind es jene bescheidenen Mädeln, die in der Stadt geliebt
dessen Siegereitelkeit sich einbildet, einen unauslöschlichen, enigen
and in der Vorstadt geheiratet werden, bald Zirkusreiterinnen und Eindruck auf „Sie" gemacht zu haben, und nun zu seinem Leidwesen