II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 242

4.9. Anatol-
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klus

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Dr. Max Goldschmidt
Bureau für
Zeitungsausschnitte
Berlin N. 24
Telephon 1, 3051.
Ausschnitt aus
Badischer Beobachter, Karlsruhe.
111919
Theater und Kunst.
Karlsruhe, 18. November 1911.
Großh. Hoftheater. Der gestrige Abend brachte
drei neue Einakter heiteren Genres, aber von sehr
zweifelhaftem Werte, die uns lebhaft daran er¬
innerten, daß doch eigentlich ein Hoftheater eine be¬
rufene Bildungsstätte sein soll. Wir sind
keineswegs empfindlich, aber daß die drei Stücke
bezüglich ihres moralischen wie asthetischen Wertes
wegen bildend wirken, möchten wir doch bezweifeln,
der gebildete Zuschauer wird sie einmal ansehen
und darüber lachen, aber wir haben keineswegs die
Ueberzeugung, daß die Bildung auf allen Plätzen
des Theaters die gleiche ist, so daß die Absicht ver¬
standen wird, zumal wir auch Backfischchen und
solche, die kaum die Backfischschuppen abgeworfen,
sich „köstlich amüsieren sahen.
Im ersten Stücke „Weihnachtseinkäufe
von Schnitzler schildert ein Herr einer Dame die
Weihnachtseinkäufe, machte, und für die er ein
Faible hatte, seine Liebe zu einem Vorstadtmädchen
in so, wie es scheint, anregender Weise, daß diese
Dame, eine verheiratete Frau, die zwei Kinderchen
hat, bewegt davoneilt, indem sie ihm zuruft: „Sagen
Sie ihr (der Geliebten), daß Sie eine Frau kennen,
die es auch so gemacht haben würde, wenn sie den
Mut dazu gehabt hätte!" Das geht noch an, zumal
das psychologische Stimmungsbild, einige Ueber¬
treibungen seitens des Herrn abgerechnet, gut ge¬
spielt wurde. Im zweiten Stücke, in Hartlebens
„Die Lore", gibt ein Herr ein Mädchen auf, das
er heiraten wollte, weil es unordentlich scheint und,
anstatt einen an seiner Bluse abgerissenen Knopf
wieder anzunähen, immer ohne diesen Knopf her¬
umläuft. Er verliert nicht viel, denn ein Mädchen,
das Pferde zureitet und fürs „Offizierskasino"
stickt, das solche banale Redensarten führt und so er¬
fahren ist, ist wert — ledig zu bleiben. Dieses
Stück enthält einige komische Situationen und lau¬
nige Ausfälle, die sich um den Kern der besagten
Handlung gruppieren, aber großen Wert hat diese
Komödie nicht. Gespielt wurde von Frl. Müller
und den Herren Höcker, Pleß und Krones
vortrefflich, und dies Ensemble war tadellos.
Das ritte Stück, „Lottchens Geburts¬
tag“, von Ludwig Thoma, soll von letzterem in der
Schweiz oder in Tirol während einer Sommerreise
verfaßt worden sein, nachdem der Autor ähnliches
irgendwo mit angesehen und gehört. (Ob dies wahr
ist, vermögen wir nicht zu bestätigen.) Der Univer¬
sitätsprofessor Giselius will zum 20. Geburtstage
seines einzigen Töchterchens Lotte diese sexuell auf¬
klären, da er selber, der vergeßliche Pedant, vor
seiner eigenen Ehe sich bei einem Zoologen Rats
holen mußte. (1) Es meldet sich ein Schwieger¬
sohn, der Zoologe ist, aber ebenso unwissend scheint
über die Ehe, wie der Herr Vater der Braut es war.
Beinahe wäre die Sache zu nichts geworden, da er¬
scheint das Töchterchen selbst, und als ihr der Vater
die „Aufklärung" geben will, erklärt sie: das sei
nicht nötig, sie habe, um später eventuell auf eigene
Füße stehen zu können, ohne Wissen der Eltern in
der Klinik einen Hebammenkursus durchgemacht!
Tableau! Dieses heikle Thema wurde in fast zu ein¬
gehender Weise erörtert, und wenn es auch an Witz
und geistreichen Ausfällen nicht fehlte, wenn auch
von den Herren Dapper, Rex, von den Damen
Pix, Frauendorfer und Holm flott gespielt
wurde, wenn auch das Publikum über das pikante
Thema weidlich lachte, wir hätten das Stück doch
lieber im Stadtgartentheater als im Hof¬
theater gesehen. Es scheint, daß eben nur noch
pikante Unterhaltung den Treffpunkt bildet, mit
dem die Autoren Erfolge erzielen können. Auch ein
Zeichen unserer Zeit! Wir sahen eine Anzahl Back¬
fischchen, im Parterre und den Logen verteilt, die
so überlegen lachten und kicherten, daß man an¬
nehmen konnte: die haben auch schon einen
Hebammenkursus durchgemacht! von Stecken