II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 250


Geschik und einer kleinen verlogenen Wollust vor sich
selbst posiert. Ein bißchen weichliche Schwermut aus
dem Klubsessel heraus, Melancholien eines Flaneurs,
Entzückungen eines Aestheten vom Ringstraßenkorso.
Kokette Selbstironien und sanfter Skeptizismus, Feinheit
ohne Tiefe, Geist ohne Ernst, Humor ohne Herz. Kein
Mut zu sich selbst, aber viel Wohlbehagen an der eigenen
Kompliziertheit und allen Entscheidungen gegenüber ver¬
zagt. Immer wird ihm der Mut fehlen, die „Frage an
das Schicksal zu stellen. Das ist der Typus, den
Schnitzler in seinem Anatol geschaffen hat.
Fünf Episoden voll Geist und Witz und einer hell¬
sichtigen, seinen Psychologie, die wie etwas ganz Selbst¬
verständliches zu der liebenswürdig leichten Ware und
ihrer lächelnden Ironie zugewogen wird. Diese fünf
geistreichen, fein und graziös pointierten Szenen ver
langen auf der Bühne ihren eigenen Stil, den man
vielleicht am besten mit den Worten Intimität und
Leichtigkeit andeuten kann. Daß der Spielleiter des
Abends, Herr Dr. Thumser, auf beides Wert legte,
soll gern anerkannt werden. So war es eine vor¬
treffliche Idee, eine kleine Bühne auf der großen Bühne
zu errichten und in den einzelnen Szenen nur den kleinen
Ausschnitt eines Zimmerwinkels zu geben. Dadurch
wurde eine traulich intime Wirkung geschaffen, die den
Szenen, mit Ausnahme der einen „Weihnachtseinkäufe
sehr gut zu statten kam. Weniger berechtigt, oder um
es deutlicher zu sagen, ganz verfehlt ist aber der Ge¬
danke, die Auftritte und Abgänge der einzelnen Per¬
sonen über die große Bühne und die Stufen zur Welt
der kleinen Bühne erfolgen zu lassen. Die Intimität
und das Geschlossene des Gesamteindrucks wurde dadurch
immer wieder durchbrochen. Das Streben, etwas ganz
Originelles geben zu wollen, hat hier zu einer Unreinheit
des Stiles geführt, die schon deswegen bedauerlich ist,
weil sonst wirklich Vortreffliches zustande kam. Mit
Ausnahme der Weihnachtseinkäufe, die in dieser Art der
Szenengestaltung eigentlich unmöglich sind. Weihnachts¬
abend 6 Uhr. — In den Straßen Wiens, schreibt
Schnitzler vor. Wir hatten zu beiden Seiten der Bühne
graue Vorhänge und im Hintergrunde die kleine Bühne,
hinter deren Vorhang die Lichter eines Weihnachtsbaumes
schimmerten. Davor gehen Anatol und Gabriele mit
Weihnachtspäckchen beladen auf und ab, bis Gabriele
durch die Vorhänge der rechten Seite einen Wagen
besteigt, dessen Heranfahren zu allem Ueberfluß und
gegen jedes Stilgefühl noch naturalistisch nachgeahmt
wurde. Und die ganze Szene ist mit ein paar einfachen
Mitteln so hübsch und stimmungsvoll zu gestalten. Der
kleine Raum der übrigen Szenen war sehr gut gestellt.
Den Anatol gab in den fünf Szenen Herr Dr. Ger¬
hardt mit liebenswürdigster Natürlichkeit und vielen
seinen Beobachtungen in der Charaktergestaltung. Nur
in Anatols Hochzeitsmorgen dürfte er etwas weniger
burlesk sein. Die Damen Mayen. Köck, v. Emme¬
ring und Kennedy gaben in ihren Rollen Aus¬
gezeichnetes. Das liebe Wiener Mädel Cora, die degagierte
Zirkuskünstlerin Bianka, die Brollige Annie und die
temperamentvolle Ilona können nicht besser gestaltet
werden, als am Mittwoch gelang. Frl. Schuhmann
versagte. Herr Dr. Thumser sollte seiner Neigung
zu unterstrichenen Pointen weniger nachgeben, sein Max
würde dann diskreter wirken und eine gute Leistung sein.
Zur Einleitung gab man Hofmannsthals anmutig müden
Prolog, der von Frl. Kröck, Frl. v. Emmering
und Herrn Hadank sehr hübsch gesprochen wurde.
Die Musik hinter der Szene war laut und eher lästig
als stimmungsfördernd.
Wenn man auch da und dort gegen Einzelheiten Ein¬
wände erheben muß, der Gesamtendruck des Abends
war doch so, daß der Geist der Anatol-Szenen, dieser
feine, fazettierte, witzige, ein wenig lässige und resignierte
Geist fast überall lebendig wurde. Und das ist ein
künstlerisches Ergebnis, das man gern und freudig
bucht.
Ausschnitt aus
Leipziger Volkszeitung
30. 1219
Schauspielhaus (Anatol. Es ist gut, daß wir jetzt in
Schauspielhaus fünf Bilder aus Schnitzlers Szenenbündel
Anatol zu sehen bekommen, nachdem wir jüngst im Stadttheater
Das weite Land erlebt haben. Wir sehen nun deutlich, auf welcher
Grundlage sich die nihilistische Psychologie des letzten Stücks ent¬
wickelt hat. Es liegt hier eine ganz folgerichtige Entwicklung vor
die ihr Interesse hat. Welches war der Reiz der Anatol-Szenen,
als sie vor etwa 20 Jahren erschienen und zunächst nur gelesen
wurden? Anatol war der junge Wiener Lebemann mit Kultur
Nicht nur der mehr oder weniger elegante junge Lebemann, sondern
der frühreife Jüngling, der die Form beherrschte die ihm das Leben
heiterten Wiener Bürgertums auf den Lebensweg mit ab.
Frühreif, und deshalb von einer Bewußtheit im Genießen, die das
derbe Zupacken zerstörte, dafür aber ein Schwelgen in Stimmungen
und eine weiche Melancholie bescherte. Als „leichtsinniger Melan¬
choliker stellte sich der Typus Anatol vor, der halb nachdenklich,
halb genießerisch durchs Leben ging, halb frivol, halb weichherzig
Agonien und Episoden, nie Katastrophen und Tragödien erlebte.
Ein Mensch, der die Mittel dazu hatte, sich treiben zu lassen und mit
dem Leben geschmackvoll zu spielen. Und diese Jugend fühlte sich
als etwas Neues, noch nicht Dagewesenes, und Hugo von Hofmanns¬
thal fand in schönen, weichen, runden Versen die Formel für ihr
Wesen: „Wir habe, aus dem Leben, das wir leben, Ein Spiel ge¬
macht und unsre Wahrheit gleitet Mit unsrer Komödie durchen¬
ander Wie eines Taschenspielers hohle Becher“. O, sie kam sich sehr
interessant vor, diese goldne Jugend, und sie wurde nicht müde, nach
schönen Formeln für ihr Wesen und für die Episoden zu suchen, in
die sie ihr Leben zerstückte. Sie weiß sehr genau Bescheid über ihre
Art; aber sie hat auch noch den jugendlichen Leichtsinn, der ihr trotz
allem die Möglichkeit schafft zu genießen: die Jugendkraft, die sie
trotz allem haben, läßt die jungen Herren sich als Herren des Lebens
fühlen, sie fühlen sich als Menschen, die ihr eignes Leben formen, es
zu einem seinen Spiel umformen.
Aber man wird älter und mit der Jugendkraft schwindet die
Selbstherrlichkeit. Hieß es früher: „Wir haben aus dem Leben, das
wir leben, ein Spiel gemacht, so ist ihnen jetzt, als spiele etwas mit
ihnen ein Spiel. Eine geheimnisvolle Macht, mag sie Schicksal heißen
oder sonstwie, fühlt der kultivierte Genießer in sein Leben ein¬
greifen, und der sich ein überlegener Spieler dünkte, fühlt sich als
ein Spielzeug einer unentrinnbaren Macht. Das Spiel bleibt;
aber der Spieler wird zum Spielzeug, wird zur Marionette, die im
Leben hin und her geschoben wird. Junge Hure, alte Betschwester.
Junger Lebemann, alter Fatalist und Skeptiker. Das Leben der
Serie ist ein weites Land mit vielen Möglichkeiten, und niemand
weiß, welche Möglichkeit im nächsten Moment an die Reihe kommt;
denn etwas Unergründliches dirigiert, dem sich niemand widersetzen
kan. Wir gelangen zur nihilistischen Psychologie der Schnitzlerschen
Alterswerke. Keiner von Schnitzlers Altersgenossen ist zurzeit so
„alt" wie der Schöpfer des Anatol¬
Das sehen wir jetzt, und deshalb haben wir heute eine andre
Stellung zu den Anatolzenen als früher. Früher hörten wir nur
die Jugend aus ihnen heraus, heute sehen wir auch den Keim des
Alters. Und früher nahmen wir auch die Gestalt des „füßen
Mädels anders, die im Leben der Anatole eine große Rolle spielte.
Auch da sahen wir früher in erster Linie die Jugend und das ge¬
sunde, frohe Fühlen. Jetzt achten wir darauf, wer für das süße
Mädel schwärmt, wer es sich wie ein kleines Wunder von Frische
in Leben hineinstellt. Wir achten darauf, daß es Unfähigkeit
frischen Genießens ist, die Lebemannssehnsucht ist — wenn auch
freilich eine verfeinerte Lebemannssehnsucht —, die zu diesem Ge¬
schöpf betet und es zur Erfrischung braucht; die Gestalt will uns
öfter übel verschönt vorkommen.
Aber wenn wir auch anders zu Schnitzlers Jugendwerk stehen
als früher und wenn wir auch jetzt öfter eine merkwürdige Nüchtern¬
heit inmitten der Stimmungsschwelgerei, des Schwärmens und
Scherzens entdecken — der gute, leichtsinnige Melancholiker Anatol
mit seinem kühleren Freunde Max und seinen mehr oder wenigen
liebenswürdigen und seinen Damen und Mädels sei uns doch will¬
kommen. Denn das alles ist doch immerhin Jugend.) Aber unsre
Schauspieler sollten diese Plauderszenen mit einem gewissen Respekt
behandeln und mit Liebe, eben als Dokumente eines jugendlichen
Schaffens, das nun schon historisch geworden ist. Und sie sollten
an den Kulturkreis denken, aus dem die Szenen stammen, sollten nie
vergessen, daß diese jungen Herren, die frühgereift und zart und
traurig für böse Dinge hübsche Formeln fanden und ein halbes,
heimliches Empfinden kultivierten, eben eine besondre Vornehmtheit
hatten — nicht diese kalte, glatte Vornehmtheit, die sich langsam
und gewichtig und scharf gibt, sondern die leicht spielt und immer
dem Träumen nahe ist. Was Herr Wildenhain bot — von der un¬
möglichen, fatalen Figur des Herrn Leibelt gar nicht zu reden —,
war ein Anfang des Schaffens. Er muß noch aus dem korrekt Vor¬
nehmen herauskommen, in das spielerisch, träumerisch, melancholisch
Vornehme hinüber, und das kann ihm ja sicher noch gelingen, wenn
er nur daran mit aller Energie denkt, daß der Anatol ein lieber
Junge ist, daß man ihn unwillkürlich den guten, lieben Anatol (nicht
den feinen Anatol) nennt.