II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 640

er über die kleine
draußen
der Linie. Aber hinter dem
steckt Neugierde, sie möchte wissen, wie man ihn
dort liebte. Nicht viel berichtet er ihr denn es ist ein¬
fältig, wenn man dabei die Stimme nicht hört. Aber
abricie sieht nur, daß hier noch wahres Gefühl, in
gebende Liebe zu finden ist. Sie spottet nicht mehr
und statt eines aufdringlichen Geschenkes für sein Mädel,
überreicht sie ihm Blumen. Das alles erzählt der Dich
ter in flüssigem Dialog, in flüchtig hingeworfenen,
manchmal fast hingehauchten Worten, so daß über den
Ganzen eine eigenartige Stimmung lagert, eine
Mischung von alt wienerischer Behaglichkeit und von
Frivolität der modernen Großstadt. Bisweilen klingen
skeptische Laune und leise Sentimentalität ein. Aber
diese Stimmung wurde, trotz des schönen Straßenbildes,
durch das Spiel nicht genügend wiedergegeben; es bot
sozusagen nur die äußere Hülle, nicht die volle, warme
Seele. — Hartlebens Lore" ist ebenfalls einem Jyklus
entlehnt, den Befreiten. Das Stück enthält die dra¬
matische „Geschichte vom abgerissenen Knopf, eine lustige
Studentengeschichte. Der Hauptbeteiligte ist der Petter;
er will die Lore offiziell als seine kleine Liebe annehmen,
wenn — der ominöse Knopf endlich wieder angerüht ist.
Vierzehn Tage hat er ihr Zeit gelassen, aber sie besteht
natürlich die Probe nicht — ein schlimmes Zeichen für
ihren Charakter. Und so zerschlägt sich wieder. Aber
die drollige Lore findet Ersatz in dem über die Ver¬
lobung seiner Dora eben noch untröstlichen Kleinen,
Mit gleichen Füßen springt er aus dem Philistertum
hinein in die Bohème. — Die Darstellung wurde im all¬
gemeinen dem Dichter gerecht, besonders Frl. Alwine
Müller als Lore wußte die feine Grenze zwischen drol¬
ligem Mutwillen und frecher Ausgelassenheit mit grö߬
tem Geschick innezuhalten. Wenn Herr Pleß als Fred
etwas mehr Humor und innerlich leuchtende Fröhlichkeit
verraten hätte, so wäre die Freude an den Gemütsver¬
renkungen und Moralitätssprüngen der anderen noch
größer gewesen. Hartlebens Satire ist fein, eine nur
wenig ins Scherzhafte verschobene Darstellung der Wirk¬
Der Satiriker des „Simplizissimus greift
lichkeit.
fester, derber zu und scheut auch starke Verzerrungen im
Bilde nicht. Das Drama ist nicht seine Stärke, die
Linienführung darin oft starr; die Einfälle, wie auch in
„Lottchens Geburtstag etwas breit ausgesponnen; aber
die dramatische Schwäche wird durch den witzigen Dialog
geschickt verborgen. Sexuelle Aufklärung ist das Thema,
das gestern vor uns abgewickelt wurde. Dieses neu¬
modisch pikante Motiv hat Thoma in den Rahmen des
altriodischen Familien- und Professorenschwanks einge¬
spannt. Die juristische ein kleinen Universitäts¬
stadt, im praktischen Leben natürlich fabelhaft täppisch
will seine nunmehr 20 jährige Tochter in gewisse Ding
einweihen. Ein ebenso unpraktischer Privatdozent,
Gratulant und stiller Brautwerber, wird statt Lottchen
zum Objekt auserkoren. Die Situation wird ganz ver
fahren, im letzten Augenblick aber gerettet durch das Ge¬
burtstagskind. Als nämlich der freiwillig unfreiwillig
Werber sich erklärt hat, beruhigt seine Braut alle An
wesenden durch die Mitteilung, daß sie einen Hebammen
kurs, ohne Wissen der Eltern — mitgemacht habe. — Da¬
Stück wurde flott gespielt und löste fortwährend Lacher
aus. Freilich hatte man öfters das Empfinden, als ol
es mehr dem Stoff, als dem Künstler gelte. Alles in
allem bedeutet die Aufführung der drei Einakter ein be¬
trächtliches Zugeständnis an die herrschende Strömung
Ob sie auch auf die Kasse den gehörigen Zug ausübten
mochte man in Ansehung des Besuchs leise bezweifeln

19. Anatol
Zyklus
box 9/5
Kritiker
der
steter Fertiger
ber
a