4.9. Anatol
box 9/5
klu-
real
F. 1918
Altenblock.
Gespräch mit Raoul
Auernheimer.
Von
Karl Marilaun¬
Wenn Sie Anatol unter die Literaten gegenge¬
wäre, hätte er vermutlich die Feuilletons Raoul Auernheimers
geschrieben. Und stünde an seinem vierzigsten Geburtstag, de
ungefähr mit dem des Herrn Auernheimer zusammengefallen wäre,
am Bücherbord seines nicht übertrieben beschäftigt aussehenden
Arbeitszimmers, um mit sehr gepflegten und etwas kühlen
Händen ein halbes Dutzend schmaler, leicht in diesen Händen
wiegender Novellenhändchen herunterzulangen. Die „Rosen, die
wir nicht erreichen, wären sicherlich darunter; der junge Raoul
schrieb sie in der Handschrift des nicht älteren Anatol, und diese
Handschrift änderte sich nicht nennenswert, bis etwa zur „Aengst¬
lichen Dodo und dem Burgtheaterlustspiel vom „Paar nach
der Mode.
Aber allerdings Herrn Austhenes Leichenbestatter von
Ebenbrunn hatte ein dichtender Anatol nie und nimmer ge¬
schrieben; die Novellen vom „Gußeisernen Herrgott, würde er
vielleicht, aber mit Unbehagen, gelesen haben; und die kleine,
unter ungeweinten Tränen spitz lächelnde, tragisch tändelnd
Erzählung von der Praterfahrt des obskuren, kleinen Postbeamten
Laurenz Haller hätte Herr Anatol sicher nicht weggelegt, ohne
nachdenklich und sachte erschüttert die weißen Halbmonde seiner
rosfarben mantierten Nagel zu betrachten und festzustellen, daß
hier auf anderthalb hundert Seiten der zweite Wiener Roman der
letzten zwanzig Jahre geschrieben wurde. Der erste ist der „Weg
das Freie und sein Verfasser heißt Artur Schnitzler. Ein dritter
est ausständig, aber zu erhoffen: Hugo von Hofmannthal hat ihn
vor Jahren schon versprochen.
Schnitzler, Hofmannsthal, — nennt man diese besten Namen
der Jungwiener neunziger Jahre, und etwa den Wassermanns,
Richard Beer=Hofmanns dazu, so braucht der Raoul Auernheimers
nicht darum vergessen zu werden, weil er aus dem Feuilletonteil
einer Wiener Zeitung, also sozusagen aus dem Halbstock der
Literatur in die Beletage des selig entschlafenen und eingegangenen
„Wiener Verlages übersiedelte. Als hier die „Rosen, die wir
nicht erreichen erschienen, hatte Wien neben dem Dramatiker
Schnitzler und dem Aestheten Hofmannsthal seinen neuen No¬
vellisten, einen wienerischen Maupassant sansterer, zierlicher und
graziös ironischer Prägung. Dieser neue Wiener gravitierte
natürlich recht stark nach Paris, das gehörte damals sozusagen
zum guten literarischen Ton und hatte speziell in den
Feuilletons, die Auernheimer schrieb, schon eine Art von
Tradition für sich. Solche Feuilletons mit tadelloser Tournure,
romanischer Verve und deutschen, zwischen Schwermut und Ironie
genau die Mitte haltendem Tessinn hatte zuerst kein Geringerer
als Theodor Herz geschrieben, und er hatte sie als Korrespondent
der „Neuen Freien Presse" in Paris zu schreiben gelernt,
der Schule Heils schrieb. Auernheimer sein erste
Feuilleton von „irtshaus zur verlorenen Zeit. Er war damals
ein junger Jurist mit losen Beziehungen zur Literatur, der bei
einem flüchtigen Berliner Aufenthalt den Schauspieler Josef Jarno
kennen lernte. Er traf sich mit ihm an einem der wenigen
Literaturstammtische, an denen Herr Auernheimer verkehrt hat,
und erwährte gesprächsweise, daß er eben mit einem kleinen
dreiaktigen Lustspiel fertig geworden sei. Jarno, der um
dieselbe Zeit als Direktor nach Wien ging, das das Stück, es
gefiel ihm und er setzte es für seinen zweiten literarischen
Abend in der Josefstadt an. „Talent, hieß die talentierte
Kleinigkeit des so gut wie unbekannten Autors, von
dem bisher nur einige Aufsätze in der neugegründeten Münchener
„Jugend erschienen waren. An seinem ersten literarischen Abend¬
war Jarno mit schwerem Geschütz aufgefahren, er spielte Strind¬
berg. Der zweite sollte eine wienerische Note bringen, und der Erfolg
kleinen Stückchens war so groß, daß im „Neuen Wiener Journal
darüber zu lesen stand: „Neunundzwanzigmal durfte sich der und
schwermütige kokerte Lebenskünstler zum Menschen, der Menschliches
begreift.
Diese Wandlung Anstols, des Phantasiegeschöpfe einer ver¬
jährten Laune, hat auch Raoul Auernheimer erfahren, der als
Vierzigjähriger aus der Beletage des besten Wiener Feuilletons
zu den Schicksalen der Menschen im Souterrain / übersiedelt, um
ein Dichter zu sein — bis ihm der Stoff seines / nächsten, hoffent¬
lich scharmanten Burgtheaterlustspiels einfalls
box 9/5
klu-
real
F. 1918
Altenblock.
Gespräch mit Raoul
Auernheimer.
Von
Karl Marilaun¬
Wenn Sie Anatol unter die Literaten gegenge¬
wäre, hätte er vermutlich die Feuilletons Raoul Auernheimers
geschrieben. Und stünde an seinem vierzigsten Geburtstag, de
ungefähr mit dem des Herrn Auernheimer zusammengefallen wäre,
am Bücherbord seines nicht übertrieben beschäftigt aussehenden
Arbeitszimmers, um mit sehr gepflegten und etwas kühlen
Händen ein halbes Dutzend schmaler, leicht in diesen Händen
wiegender Novellenhändchen herunterzulangen. Die „Rosen, die
wir nicht erreichen, wären sicherlich darunter; der junge Raoul
schrieb sie in der Handschrift des nicht älteren Anatol, und diese
Handschrift änderte sich nicht nennenswert, bis etwa zur „Aengst¬
lichen Dodo und dem Burgtheaterlustspiel vom „Paar nach
der Mode.
Aber allerdings Herrn Austhenes Leichenbestatter von
Ebenbrunn hatte ein dichtender Anatol nie und nimmer ge¬
schrieben; die Novellen vom „Gußeisernen Herrgott, würde er
vielleicht, aber mit Unbehagen, gelesen haben; und die kleine,
unter ungeweinten Tränen spitz lächelnde, tragisch tändelnd
Erzählung von der Praterfahrt des obskuren, kleinen Postbeamten
Laurenz Haller hätte Herr Anatol sicher nicht weggelegt, ohne
nachdenklich und sachte erschüttert die weißen Halbmonde seiner
rosfarben mantierten Nagel zu betrachten und festzustellen, daß
hier auf anderthalb hundert Seiten der zweite Wiener Roman der
letzten zwanzig Jahre geschrieben wurde. Der erste ist der „Weg
das Freie und sein Verfasser heißt Artur Schnitzler. Ein dritter
est ausständig, aber zu erhoffen: Hugo von Hofmannthal hat ihn
vor Jahren schon versprochen.
Schnitzler, Hofmannsthal, — nennt man diese besten Namen
der Jungwiener neunziger Jahre, und etwa den Wassermanns,
Richard Beer=Hofmanns dazu, so braucht der Raoul Auernheimers
nicht darum vergessen zu werden, weil er aus dem Feuilletonteil
einer Wiener Zeitung, also sozusagen aus dem Halbstock der
Literatur in die Beletage des selig entschlafenen und eingegangenen
„Wiener Verlages übersiedelte. Als hier die „Rosen, die wir
nicht erreichen erschienen, hatte Wien neben dem Dramatiker
Schnitzler und dem Aestheten Hofmannsthal seinen neuen No¬
vellisten, einen wienerischen Maupassant sansterer, zierlicher und
graziös ironischer Prägung. Dieser neue Wiener gravitierte
natürlich recht stark nach Paris, das gehörte damals sozusagen
zum guten literarischen Ton und hatte speziell in den
Feuilletons, die Auernheimer schrieb, schon eine Art von
Tradition für sich. Solche Feuilletons mit tadelloser Tournure,
romanischer Verve und deutschen, zwischen Schwermut und Ironie
genau die Mitte haltendem Tessinn hatte zuerst kein Geringerer
als Theodor Herz geschrieben, und er hatte sie als Korrespondent
der „Neuen Freien Presse" in Paris zu schreiben gelernt,
der Schule Heils schrieb. Auernheimer sein erste
Feuilleton von „irtshaus zur verlorenen Zeit. Er war damals
ein junger Jurist mit losen Beziehungen zur Literatur, der bei
einem flüchtigen Berliner Aufenthalt den Schauspieler Josef Jarno
kennen lernte. Er traf sich mit ihm an einem der wenigen
Literaturstammtische, an denen Herr Auernheimer verkehrt hat,
und erwährte gesprächsweise, daß er eben mit einem kleinen
dreiaktigen Lustspiel fertig geworden sei. Jarno, der um
dieselbe Zeit als Direktor nach Wien ging, das das Stück, es
gefiel ihm und er setzte es für seinen zweiten literarischen
Abend in der Josefstadt an. „Talent, hieß die talentierte
Kleinigkeit des so gut wie unbekannten Autors, von
dem bisher nur einige Aufsätze in der neugegründeten Münchener
„Jugend erschienen waren. An seinem ersten literarischen Abend¬
war Jarno mit schwerem Geschütz aufgefahren, er spielte Strind¬
berg. Der zweite sollte eine wienerische Note bringen, und der Erfolg
kleinen Stückchens war so groß, daß im „Neuen Wiener Journal
darüber zu lesen stand: „Neunundzwanzigmal durfte sich der und
schwermütige kokerte Lebenskünstler zum Menschen, der Menschliches
begreift.
Diese Wandlung Anstols, des Phantasiegeschöpfe einer ver¬
jährten Laune, hat auch Raoul Auernheimer erfahren, der als
Vierzigjähriger aus der Beletage des besten Wiener Feuilletons
zu den Schicksalen der Menschen im Souterrain / übersiedelt, um
ein Dichter zu sein — bis ihm der Stoff seines / nächsten, hoffent¬
lich scharmanten Burgtheaterlustspiels einfalls