V, Textsammlungen 5, Masken und Wunder. Novellen, Seite 54

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5. Masken und„mer
Kopf sagt: gut, daß es vorbei, und das ganze Wesen doch mit allen Fasern
nach den Entzückungen der Einen fiebert.
Unsentimental schreitet die Geschichte; sie kennt die Erneuerungen, sie
weiß, daß auf dem durch die Passion aufgewühlten Boden am dankbarsten
neue Reigung keimt, daß von Rosalinde zur Julia nur ein Schritt. Und
so gestaltet sie mit gleicher Tragkraft den Aufschwung der neuen Götter und
der neuen Liebe und wie ein Vircuoso verwandelt wird und mit zärtlicher
Ehrfurcht und mit der Scheu vor dem Unglaubhaften ein mit den Hüllen
der Scham und der Bangnis umschleiertes Frauenbild gewinnt, bis ihm
Erfahrung auch dies zerpflückt.
Castell hat nicht wie Flake den Ehrgeiz, seinen Roman in einen fest ab¬
schließenden Rahmen zu sperren und seinen Bernard durch die Lehrjahre der
Liebe zu einem deutlich markierten Entwicklungsziel zu führen.
Indirekt aber — und darin liegt die Education sentimentale — bringt
er ihn doch ganz organisch vom Genießerischen zum Nachdenklichen. Durch
aber doch dankbar für jeden starken Augenblick, der ihm geschenkt ward —
es sei wie es wolle —. Und als ein Merkzeichen dafür steht die letzte Szene,
die Bernard in diesem Buch mit einer Frau hat, und diese Frau ist seine
Mutter, die ruhelose Weltreisende, die nicht altern will und nicht abdanken
und nicht verzichten. Bernard, dem sie eine Fremde geblieben, sieht sie jetzt,
da sie in Paris auftaucht, mit seiner durch Leiden und Lust getränkten Er¬
fahrung in einem andern Licht, er weiß es jetzt — und wieder denkt man
an Schnitzler, an den unvergeßlichen einsamen Weg — daß Mütter auch
Frauen sind.
Ohne daß es zwischen ihnen zu einer Aussprache kommt, verstehen sie
sich beide zum erstenmal und Bernard sagt stockend: „Mama, wir müssen
jetzt beide sehr gut zueinander sein.“ Und in Varüerung des oftgebrauchten
Spruches kann man als Schluß noch setzen: Wer viel geliebt hat, der kann
viel vergeben...
(iebe, Liebe, nichts als Liebe ..
— Irene Forbes=Mosse hat ein neues Buch geschrieben, „Der kleine Tod“.
genannt nach dem koskanischen Volkslied von dem armen Seelchen, das
singt vorrei morir di morte piccinina (S. Fischer, Verlag). Keine Liebes¬
situation ist darin, und doch schwingt hier alles Fühlen, Sehen und Lauschen
in Saiten, die zu solcher Empfänglichkeit nur durch die Liebe gestimmt
sein können.
Im Hintergrund dieses Buches, das als Tagebuch einer Frau in selbst¬
gewählter Verbannung anzusehen ist, — einer Verbannung, die noch nicht
Verzicht, mehr ungelöstes Harren — zirtert Reigung und Sehnsucht nach
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