V, Textsammlungen 2, Die griechische Tänzerin. Novellen, Seite 4

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2. Die griechische Ta.rin
Müre.
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Vom Büchertisch des Bondoirs.
den Ernst des Vorwurfes, die vollendete Knappheit der Darstellung
Wiener Bücher. Der „Wiener Verlag“ — der einzige am
und erschütternde Durchdringung der menschlichen Gefühle eine
Platze, der für wertvolle, heimische Literatur in Betracht kommt
der allerwertvollsten Schöpfungen des Dichters. Vor allem zeigte
hat eine neue Sammlung von über dreißig Novellen als „Bibliothek
sie ihn von einer völlig neuen Seite. Schnitzler begab sich in einen
moderner deutscher Antoren erscheinen lassen. Schriftsteller vom
Stoffkreis, von dem man nicht erwarten konnte, daß er ihn auch be¬
Namen eines Georg Hirschfeld, Otto Ernst, O. J. Bierbaum, Johannes
herrschen werde. — Geronimo verlor durch des Bruders Schuld in der
Schlaf, A. v. Perfall, Hans v. Kahlenberg, verleihen ihr einen bleibenden
Kindheit das Augenlicht; seither ziehen die Brüder Jahr um Jahr von
Wert. Die Wahl der Autoren geschah wohl nach keinem literarischen
Italien nach Tirol und dann, wenn der Fremdenstrom wieder nach
Prinzipe; was sich einfand, und was dem Verleger erreichbar war,
dem Süden kehrt, wieder dahin zurück. Eines Tages erlaubt sich ein
wurde hier als rechtes Lesefutter dem Publikum vorgelegt. Geschmack
Fremder mit dem Blinden einen satanischen Scherz, indem er den
und Kritik mögen die Leser durch ihre Auswahl betätigen! Die
gereizten und ohnehin bloß schlummernden Argwohn Geronimos gegen
Büchlein sind sehr billig und bei dem mäßigen Preise (eine Mark¬
den Bruder entzündet. Ein stummer, aber furchtbarer Kampf ent¬
hübsch ausgestattet. Druck und Papier sind tadellos, was nicht von
brennt in den beiden Männern. Geronimo wird von einem erbitterten
allen Titelbildern gesagt werden kann. Aber der Verleger ist leider
Haß gegen den scheinbar glücklicheren Bruder zu schmählichen
nicht in der Lage, bloß das literarisch und künstlerisch empfindende
Kränkungen hingerissen, die Carlo, duldend und dienend — noch
Publikum gewinnen zu müssen; die Ausgabe ist für einen Massen¬
hinnimmt. Endlich
immer als Sühne seiner Jugendschuld
absatz berechnet und hat demnach dem Massengeschmacke Konzessionen
wird er zum Dieb, um sich das Zwanzig=Frankenstück, um das
zu machen. Wir wollen hier über jene Bände sprechen, die abseits von
sich Geronimo betrogen fühlte, zu verschaffen. Lieber will er nachgeben
der Marktware gehandelt, werden. Da ist vor allem Hugo v. Hof¬
und auf sich nehmen, den Bruder betrogen zu haben, als daß sich
mannsthals Buch mit den prachtvollen Dichtungen seiner aller¬
dieser von ihm trenne und fremden Menschen überlasse, denn“
ersten Zeit. Es gibt Leute, die diese Anfänge höher werten als die
so sehr wächst endlich Geronimos Verachtung an, daß er Carlo
langsam reifenden Arbeiten seiner nachdenklichen, überwägenden, aus¬
von sich stößt. Wie aber dann, als der Bruder verhaftet wird, die
gekühlten Mannesjahre, die doch außer hoher, formaler Kunst eine
Erkenntnis von dessen Seelengröße in dem Blinden aufgeht, wie er
persönliche, schöpferische Note enthalten sollten. Das Buch birgt das
Carlo küßt und in seiner hilflosen Liebe abbittet, ist erschütternd und
herrliche „Märchen der 672. Nacht“. Wenn Hofmannsthal nichts
von tiefer Schönheit. Eine Geschichte voll köstlicher Anmut und einer
anderes geschrieben hätte, dessentwillen müßte sein Name einer der
beinahe — schwermütigen Lustigkeit ist die Skizze „Exzentrik“. Ein
teuersten unserer Literatur sein! Ein Dämmerungsstück. Gefühle,
Franzose macht derlei nicht amüsanter, frecher und graziöser; dem
Stimmungen, artistische Werte in einem Zustande gesteigerter Sensibilität,
Parfüm nach ist das Stückchen ein echter Schnitzler, originell in seiner
traumhafter Ab= und bald wieder Anspannung. Eine innere Welt wird
grotesken Weltanschauung und sprühend in den Pointen.
man Hofmannsthal nicht ableugnen können, und diese ist wie die eines
Siegfried Trebitsch stellt sich mit drei Skizzen „Das verkaufte
orientalischen Phantasten reich an Pracht und köstlichen Erscheinungen,
Lächeln“ „Das Gitterbett", „Die begrabene Puppe“ ein. Wieder fällt
tiefen Schönheiten, sinniger Weisheit! Dieses Märchen von der Unent¬
dieses Antors Begabung, aus den alltäglichen Grausamkeiten des
rinnbarkeit des Lebens ist von der dunklen Schönheit einer Nacht, in
Lebens mit Ernst und Empfindung genrehafte Mahnungen zu ge¬
deren Stille sich die Fülle innerer und äußerer Gewalten sammelt, auf die
stalten, auf. Vor Flüchtigkeit in der Diktion wird sich Trebitsch künftig
Seele eindringt und die Macht der Hellsichtigkeit verleiht. Das Leben ist
zu hüten haben. Den besten Eindruck macht die stille, mit Symbolen
dem Dichter ein Garten, der so eng ist wie das Leben und
leise spielende Erzählung von dem Marquis von Saint=Ponnerre und
hinter dessen kostbaren Pflanzen und geheimnisvollen Glashäusern
seiner Punne Liliane
Feinde und Mächte liegen, lauern, umgarnen und zuletzt morden.
Heimtückisch, schleichend, wortlos mordet das Leben. Hier schiebt ein
Dichter die Nebel und Schleier des Gemeinen von den Abgründen
des Lebens, und als eine unerforschliche, zauberische Welt tut sich das
Wesen der letzten Dinge vor uns auf. Die Unentrinnbarkeit innerer
Mächte leitet den schönheitergebenen Kaufmannssohn dieses Morgen¬
land=Märchens, leitet den breitbrüstigen, genußfreudigen Wachtmeister
Anton Lerch der kraftvollen „Reitergeschichte“ macht den „Marschall
Bassompierre“ zum Opfer der geheimnisvollen Kraft des Lebens. Der
„Brief“ des Lord Chandos an Francis Bacon ist eine philosophisch¬
moralische Konfession, eine Selbstenträtselung edelster dichterischer Ge¬
fühle zwischen Wahrheit und Träumerei, Leben und Hallnzination.
Ich gedenke des prunkenden „Gestern“ Hofmannsthals, dann seines
Dramas „Der Abenteurer und die Sängerin“ der „Sobeide“ und fasse
den Zusammenhang zwischen diesen Dichtungen durch die folgende Stelle
im „Briefe": „Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen
ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berührt,
etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfseite
meines Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzückendes,
schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt
unter den gegeneinanderspielenden Materien keine, in die ich nicht
hinüberzufließen vermöchte. Es ist mir Jann, als bestünde mein
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Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen.“
Arthur Schnitzler ist auch als Erzähler begehrt und geschätzt.
Die Revelle „Der blinde Geronimo und sein Bruder“ ist durch
MRRTA