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Panphlets Offorints
Dichtung.
306
Eindruck, den diese neue Kunst bei ihrem Erscheinen machte, ist
von Bahr, wohl dem größten Anempfinder der litterarischen
Vorgänge in Frankreich und Deutschland während der achtziger
und neunziger Jahre, besonders sinnfällig beschrieben worden!.
Von dem Romane Georgs von Ompteda „Drohnen“ (1893)
sagt er: „Keine Handlung und gar keine Psychologie und nicht
einmal das gemeine Vermögen der Naturalisten, das tägliche
Leben zu malen: diese vielen Dinge sehen wir kaum. Aber
wir fühlen sie, wir zucken von ihnen, sie rieseln in uns. Der
nervöse Gehalt wird von ihm aus den Dingen gezogen und in
den Leser gebracht. Plastisches fehlt; er geht ohne Umweg
unmittelbar gleich an die Nerven. Aus Menschen und Dingen
weiß der Verfasser nur den eigenen Dunst, der um sie schwebt,
weiß er nur ihre Musik zu holen. Am schönsten ist das an
der „Gräfin Ines' in seiner letzten Sammlung „Unter uns
Junggesellen (1894) gelungen. Nirgends wird seine Weise
deutlicher als in dieser gelassenen, schlichten und doch so un¬
gemeinen Erzählung, die ein Wunder an Harmonie von Gefühl
und Form ist. Nichts geht vor, als daß ein junger Mann
eine junge Dame kennen lernt. Von dem jungen Mann erfahren
wir gar nichts, und so mag sich jeder selber an seine Stelle
denken. Von der jungen Dame erfahren wir nichts als den
Geruch ihrer Worte, wir hören die liebe Farbe ihrer Stimme,
und so mag sich jeder für sie die besten Formen denken. Nur
die Melodie tönt, wie die zwei jungen Leute sich mit leisen
Fäden ziehen. Das giebt einen unsäglichen Reiz, weil es im
Grunde gar keine Gestalten, sondern uns in die Stimmung
bringt, selber zu gestalten. Es wirkt wie ein stilles Lied, wie
leises Flüstern auf der Geige und läßt uns ins Weite träumen.
Ich habe nie eine so nichts als musikalische Prosa ge¬
lesen. Und gleich darauf bemerkt Bahr von dem Roman der
Ricarda Huch „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngern“.
(1893): „Sie erzählt die Wirrungen, die eine ungestüme und
sündige Liebe über eine Hamburger Familie bringt und der
1 Renaissance, neue Studien zur Kritik der Moderne S. 67 ff., 1897.
——
Dichtung.
Tod erst löst. Seltsam ist nun, wie der
Handlungen, ja ohne große Worte, indem
und immer episch bleibt, unbeschreiblich aufg
Zorn und Schmerz getrieben, im Innersten be
das Thema? Es ist alt, und da es sehr
ständlich in Gang gebracht wird, höchstensst
fähig. Durch die Form? Es ließe sich lei
Behandlung denken, und der breite, geflissent
gewaltsam goetheisierende Stil müßte ehe
dämpfen. Also wie? Man kann es nicht sa
ganz die Wirkung der Musik, wo man auch ni
denn traurig oder heiter ist, als weil sie eben
oder heiter macht. Man wird von Accorde
Stimmungen gezogen." Musikalische Wirk
auf die Nerven: das, was die Huch wie von
und unter Anwendung nicht bloß der von
sondern auch noch einer ganzen Anzahl a
ausüben, ist die Herrschaft über die neurol
Daß aber eine neurologische Technik den
hohem Grade begünstigt, ja für ihn in sein
gestaltung Voraussetzung ist, zeigt wiederum
starken symbolischen Wirkungen des Musikdrau
der symphonischen Dichtung.
Dieser Symbolismus ist, in Deutschland
weiteren Entwicklung nach eine Kunst vorne
weiblichen Charakters. Kein Wunder daher,
vornehmsten Vertreterinnen sind. Gewiß
Autoren, wie schon der Schweizer Walter Si
in seinem Romane „Tino Moralt“ (1890)
Verfalls künstlerischer Schaffenskraft, einige
Richtung gezeigt, und selbst der männliche
legentlich (in „Effi Briest“, 1895) das Besch
bolische gesteigert und sich damit auch neu
genähert. Im Vordergrunde aber stehen dog
Kurz, Anselm (Selma) Heine, Helene Böhlg
Von der symbolistischen Technik wird
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Panphlets Offorints
Dichtung.
306
Eindruck, den diese neue Kunst bei ihrem Erscheinen machte, ist
von Bahr, wohl dem größten Anempfinder der litterarischen
Vorgänge in Frankreich und Deutschland während der achtziger
und neunziger Jahre, besonders sinnfällig beschrieben worden!.
Von dem Romane Georgs von Ompteda „Drohnen“ (1893)
sagt er: „Keine Handlung und gar keine Psychologie und nicht
einmal das gemeine Vermögen der Naturalisten, das tägliche
Leben zu malen: diese vielen Dinge sehen wir kaum. Aber
wir fühlen sie, wir zucken von ihnen, sie rieseln in uns. Der
nervöse Gehalt wird von ihm aus den Dingen gezogen und in
den Leser gebracht. Plastisches fehlt; er geht ohne Umweg
unmittelbar gleich an die Nerven. Aus Menschen und Dingen
weiß der Verfasser nur den eigenen Dunst, der um sie schwebt,
weiß er nur ihre Musik zu holen. Am schönsten ist das an
der „Gräfin Ines' in seiner letzten Sammlung „Unter uns
Junggesellen (1894) gelungen. Nirgends wird seine Weise
deutlicher als in dieser gelassenen, schlichten und doch so un¬
gemeinen Erzählung, die ein Wunder an Harmonie von Gefühl
und Form ist. Nichts geht vor, als daß ein junger Mann
eine junge Dame kennen lernt. Von dem jungen Mann erfahren
wir gar nichts, und so mag sich jeder selber an seine Stelle
denken. Von der jungen Dame erfahren wir nichts als den
Geruch ihrer Worte, wir hören die liebe Farbe ihrer Stimme,
und so mag sich jeder für sie die besten Formen denken. Nur
die Melodie tönt, wie die zwei jungen Leute sich mit leisen
Fäden ziehen. Das giebt einen unsäglichen Reiz, weil es im
Grunde gar keine Gestalten, sondern uns in die Stimmung
bringt, selber zu gestalten. Es wirkt wie ein stilles Lied, wie
leises Flüstern auf der Geige und läßt uns ins Weite träumen.
Ich habe nie eine so nichts als musikalische Prosa ge¬
lesen. Und gleich darauf bemerkt Bahr von dem Roman der
Ricarda Huch „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngern“.
(1893): „Sie erzählt die Wirrungen, die eine ungestüme und
sündige Liebe über eine Hamburger Familie bringt und der
1 Renaissance, neue Studien zur Kritik der Moderne S. 67 ff., 1897.
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Dichtung.
Tod erst löst. Seltsam ist nun, wie der
Handlungen, ja ohne große Worte, indem
und immer episch bleibt, unbeschreiblich aufg
Zorn und Schmerz getrieben, im Innersten be
das Thema? Es ist alt, und da es sehr
ständlich in Gang gebracht wird, höchstensst
fähig. Durch die Form? Es ließe sich lei
Behandlung denken, und der breite, geflissent
gewaltsam goetheisierende Stil müßte ehe
dämpfen. Also wie? Man kann es nicht sa
ganz die Wirkung der Musik, wo man auch ni
denn traurig oder heiter ist, als weil sie eben
oder heiter macht. Man wird von Accorde
Stimmungen gezogen." Musikalische Wirk
auf die Nerven: das, was die Huch wie von
und unter Anwendung nicht bloß der von
sondern auch noch einer ganzen Anzahl a
ausüben, ist die Herrschaft über die neurol
Daß aber eine neurologische Technik den
hohem Grade begünstigt, ja für ihn in sein
gestaltung Voraussetzung ist, zeigt wiederum
starken symbolischen Wirkungen des Musikdrau
der symphonischen Dichtung.
Dieser Symbolismus ist, in Deutschland
weiteren Entwicklung nach eine Kunst vorne
weiblichen Charakters. Kein Wunder daher,
vornehmsten Vertreterinnen sind. Gewiß
Autoren, wie schon der Schweizer Walter Si
in seinem Romane „Tino Moralt“ (1890)
Verfalls künstlerischer Schaffenskraft, einige
Richtung gezeigt, und selbst der männliche
legentlich (in „Effi Briest“, 1895) das Besch
bolische gesteigert und sich damit auch neu
genähert. Im Vordergrunde aber stehen dog
Kurz, Anselm (Selma) Heine, Helene Böhlg
Von der symbolistischen Technik wird