Lieber Gustav. Ich rufe 9. Sie rufen 9 u. 18 (Zeilen.) Ich halte sie und rufe noch drüber – als Poker-Kiebitz
verstehn Sie ja das. Den Empfang Ihres freundlichen Neides bestätige ich mit herzlichem
Dank; ich wollte von andern so liebenswürdig geschätzt als von Ihnen beneidet sein.
Im übrigen liegt mancher Anlaß vor, mich zu beneiden; – wenigstens für die abgelaufenen
vier Wochen; da ich nichts verschreien will. Sie sind ein flüchtiger Leser der
Zeit und haben wohl die
Entrefilets gelesen, die in den letzten Nummern über
Paris darin zu lesen waren; sie stammen aus der Feder des Herrn
Graf und ich weiß nicht, ob Sie von
Wien aus die ganze Läpperei dieser Notizen beurtheilen können. Allerdings ist es auch
der Mühe werth hieherzukommen um
Paris nur miszuverstehen; und auch hier gibt es eine hoffnungsvolle Jugend, welche bemüht
scheint, das Wesen ihrer Heimat zu fälschen und das Leben zu misdeuten. Man hat sie
mir neulich bei Gelegenheit einer Theateraufführg im »
Œuvre« gezeigt. Ich habe Herrn.
Mauclair gesehn; zugleich Herrn
La Jeunesse, der den erstgenannten bei der vorletzten
œuvre-Vorstellg geohrfeigt hat und, wie man sich erzählt, daraufhinarbeitet, Kaiser von
Frankreich zu werden. Er beginnt damit, Feuilletons zu schreiben und mystische Medaillen zu
vertheilen. Ich habe zahlreiche andre Jünglinge mit praeraphaelitischen Fräuleins
gesehn, die in den Couloirs herumgespensterten. Leider hab ich auch ein Stück gesehen,
war aber nur den zwei ersten Akten gewachsen. Im ersten jammert ein Schwindsüchtiger,
daß er schwindsüchtig und complicirt ist (Oh ma mère que je suis compliqué) und eine
Blinde, daß sie blind ist; im zweiten kommen die Blinde und der Schwindsüchtige mit
verbundnen Handgelenken herein: es ist eine Transfusion gemacht worden und der Schwindsüchtige
wird gesund. Und die Blinde, welche noch im ersten Akt die Geliebte des Bruders des
Schwindsüchtigen war, wird die Frau des Schwindsüchtigen. Man glaubt eben nicht, was
die Transfusion für ein Wundermittel ist! Dann kommen noch zwei Akte, die ich nicht
mehr gesehn habe und das ganze heißt: »
Ton sang«. –
– Sehr interessant waren mir die drei Haupterfolge der Saison,
Douloureuse,
Carrière,
Snob – hauptsächlich wegen der Familienähnlichkeit der drei Stücke. In allen dreien könnten
vor allem die Titel gewechselt werden, ohne daß es ein Mensch merkt; ja ich hatte
sogar den Eindruck, sie würden dann besser zu den Stücken passen. Alle drei sind keine
Stücke; in allen dreien ereignet sich das wichtige zwischen dem vorletzten u. letzten
Akt – u. wir müssen einfach dran glauben; in allen dreien ist der letzte Akt eigentlich
nichts als ein sentimentaler Dialog der zwei Hauptpersonen, welche eingesehen haben
daß u. s. w. – Aber gespielt wird – zum Entzücken.
– Ihre Ansicht über
Reicher scheint mir die richtige zu sein; ich habe seine Größe nie begriffen, obwohl er,
wie Sie wohl in der
Zeit gelesen haben, »
für mich eingestanden ist, als die guten Wiener noch über mich lächelten.«
Ich bleibe noch etwa 14 Tage hier, dann geh ich nach
London, und bin wohl in den letzten Maitagen in
Wien. Sollte ich nicht auch Sie als Radfahrer wiederfinden? –
Leben Sie wohl und seien Sie herzlich gegrüßt!
Ihr
Arth Schn