Nur mit wenigen Zeilen kann ich Ihnen heute für Ihren letzten so lieben und erfreulichen
Brief danken; ich bin glücklich zu hören, dass der alte Zauberer Okeanos auch an Ihren
Nerven Wunder thut und dass Sie sich die heilige Salzflut geniessend, wohler kräftiger
und lebensfreudiger fühlen. Mir ist das Meer immer der einzige treue und verlässliche
Wohlthäter: und wenn ich so könnte, führe ich am liebsten nach
Abbazia und mit Ihnen an den Küsten Dalmatiens und Liburniens nach
Corfu! Es ist eine der grossartigsten Küsten, die es in der Welt gibt, wie mir weitgereiste seefahrende
Engländer gesagt haben: und obgleich die Felsen dort steil sind und wenig Lebendiges zu sehen,
macht die Landschaft keinen bedrückenden, viel mehr einen befreienden grossartigen
Eindruck! Immer muss ich in diesen Gewässern daran denken, dass es doch wol nicht
viel anders
als heute ausgesehen hat, zu jener Zeit, da die
römischen Flotten durch das Liburnische Meer zogen zur grossen Seeschlacht bei
Actium, in der die Herrschaft über die alte Welt entschieden worden ist! Der Quarnero ist ein althistorisches Meeresbecken: und wenn man die alten verklungenen Geschichten
Venedigs und seiner Seeherrschaft einmal ein bischen gelesen hat, so belebte sich die ganze
Gegend für den erinnernden Besucher.
– Hier, in dem kotherfüllten
Wien ist nichts Neues: höchstens dies, dass »
Rose Bernd«
ab vom Repertoire nach 6 Aufführungen
auf höheren Befehl abgesetzt wurde, wie man erzählt, wegen der wenig erbaulichen after-dinner oder besser gesagt
after-love-Szene im ersten Akt, die, wie Herr
Rudolf Lothar sagen würde, sich »im Schatten eines auf der Bühne wirklich gezeigten Cruzifixes«
abgespielt hat. – Die »
Geschichte vom Gitterbett« hat auf meine
Frau einen recht wenig erquicklichen Eindruck gemacht: der treffliche Autor hatte sich
allen »etwaigen« Vorwürfen durch Reise nach
Berlin zu entziehen gewusst. Er, der gute
Trebitsch, erschien bei uns sichtlich ergriffen vom Tode eines 76jährigen und gewiss mit 17.6
Millionen Kronen gesegneten
Onkels, dessen Leichenbegängnis den gefühlvollen Neffen von
Berlin hierher genötigt hatte.
Trebitsch ist wirklich ein guter Kerl, aber manchmal ein bischen zu »gut« für diese Welt. –
Ich habe – trotz Überlastung mit Arbeit – einen ruhigen Abend gefunden, um
Schnitzlers »
Einsamen Weg« zu lesen. Ich bewundere viele Feinheiten des Dialogs, erschütternd wahre Worte und in’s Herz gehende Gedanken, aber das Ganze will mir nicht gefallen. Der »
Einsame Weg« ist nicht der neue Weg, den
ich Schnitzler zu wandeln beabsichtigt, wie man hört: die Herren Sala und Fichtner sind die gealterten
Anatol und dessen Freund aus unseren eigenen Jugendtagen. Aber sind denn diese
Anatols wirklich so wichtige Leute – selbst in
Wien –, dass man sie nicht los werden sollte? Und dann: muss man glauben, dass Frau Wegrath
23 Jahre lang ruhig diese »Lüge« mit sich herumträgt, um sie schliesslich dem – Hausarzt
zu erzählen und dem Sohne Andeutungen zu machen, eh’ sie stirbt? Und dann diese unglückselige
Johanna! Das ist das durch Lectüre von
Ibsen »verbildete« Mädchen
; aber das Schlimme ist, dass man ihr ihre Ahnungen und »Sehnsüchte« nicht glaubt,
vielmehr das Gefühl hat
: die hat sie auch »angelesen«! Und so kein Fünkchen Sonnenschein ist in dieser
Schnitzlerschen Welt: nervöse Schufte sind die Helden, die so thun, als gehörte die Welt ihnen,
weil sie jedes Quartal ein anderes »Medchen« verführen! Ganz ernsthaft sagt der eine
der beiden »Schufte« in dem Stück zu dem ex-post entdeckten Sohn: »
Ich habe doch Deiner Mutter die schönste Stunde
ihres Lebens geschenkt, die eine Frau haben kann und da empfing sie Dich«. Da muss man doch lächelnd sich fragen: glaubt
Schnitzler das wirklich, dass »das« die schönste Stunde im Leben einer Frau ist? Liegt da nicht
etwas naive, virile Selbstüberschätzung darin?
Verehrter Freund, jetzt ist’s doch ein längerer Brief geworden. Aber ich höre sogleich
auf. Will Ihnen nur sagen, dass ich mit der Wanderung zu dem »lieben guten«
Moriz B. in
I. Fichtegasse absichtlich zögere: ich glaube aus bestimmten Gründen, dass es besser ist,
noch kein damit noch zu warten. Es ist nichts damit versäumt: und ich fürchte fast, vorschnell
gehandelt wäre hier eventuell mit Schäden verbunden. Aber im Laufe dieses Monates
lässt es sich vielleicht doch machen. –
Die »
Zeit« ist trotz des
japanischen Kriegs fader denn je:
Singer ist von einer Reise in das »bessere
Westeuropa« jüngst zurückgekehrt. Es wird aber noch kein neues »hervorragendes« Engagement aus
Paris oder
London gemeldet.
Meine
Frau ist leider nicht ganz wohl: sie hat seit Wochen an Heiserkeit laborirt und nun stellt
sich heraus dass sie an der »
kaiserlichen« Krankheit« leidet: eine allerdings sehr kleine Verdickung des Stimmbandes ist schuld daran. Einstweilen wird sie gepinselt, aber
es dürfte doch zu der kleinen Operation kommen, und dann muss sie – acht Tage lang
schweigen, was wol die schwierigste Consequenz des Leidens ist.
Ich selbst drücke Ihre Hand und bin
in treuer Verehrung der Ihrige
Josef Redlich