Das junge Oesterreich.
                     Von Hermann Bahr.
                     II.1
                     Ich habe gezeigt, daß das junge 
Oesterreich nichts mit den naturalistischen Experimenten der »jüngsten 
Deutschen« gemein hat. Es will vielmehr, da nun einmal unser Leben aus der 
deutschen Entwicklung geschieden und heute der 
deutschen Cultur nicht näher als irgend einer anderen ist, den Anhang der 
deutschen Literatur verlassen und nun aus der eigenen Art auch eine eigene Kunst gestalten.
                        Es möchte – sonst hat es keinen vernehmlichen Trieb – es möchte recht 
österreichisch sein, 
österreichisch von 1890, was dann freilich Jeder wieder auf seine Weise versteht.
 
                     Jetzt will ich noch ein bischen die Einzelnen prüfen. Ich muß dabei dem geläufigen
                        Gebrauche folgen, der nicht immer logisch ist: er läßt Manche ohne rechten Grund aus
                        der Gruppe, die doch wenigstens als erste Boten und Läufer in sie gehören würden.
                        So darf ich von 
Siegfried Lipiner, 
Richard Kralik und der 
delle Grazie, von den beiden 
Suttners, der 
Marriot und der 
Ossip Schubin, von 
Gustav Schwarzkopf, 
C. Karlweis und 
J. J. David nicht sprechen, die von der Schule verleugnet und es sich wohl auch selber verbitten
                        würden, sondern 
Karl Baron Torresani, 
Arthur Schnitzler und 
Loris, 
dann die Lyriker 
Dörmann, 
Korff, 
Specht und endlich ein paar Worte über mich müssen genügen.
 
                     Torresani2 kann von Glück sagen. Es ist noch nicht fünf Jahre, daß der fröhliche Uhlane die
                        erste Geschichte schrieb, und schon heißt er, was einem Künstler nicht leicht passirt,
                        der »beliebte Erzähler«. Das kommt vielleicht daher, weil er eine unbesonnene, saloppe,
                        liederliche Sprache, unpersönliche zufällige Formen, eine wüste Schlamperei hat, welche
                        den üblichen Geschmack mit seinen künstlerischen Werthen wieder versöhnen. Die Empfindlichkeit
                        für reine und vollkommene Sätze, die Begeisterung gefeilter Worte, das Gewissen der
                        Mache fehlt ihm. Technisch ist er von der größten Unschuld, welche keine Sorgen, Gefahren,
                        Beschwerden der Form ahnt. Er schreibt, wie es gerade kommt: 
au petit hasard de la plume und Kleckse verstören jede Schönheit. Man mag an 
Tovote denken, und so hat er auch diesen heiteren und leichten Fluß, den kein Kummer trübt.
                        Alles ist ungesucht, ungekünstelt, ungezwungen. Er schwitzt nicht, würde 
Nietzsche sagen. Er hat eine solche Fülle von Ereignissen, Gestalten, Welten, die ohne Rast
                        nach Offenbarung drängen, daß er nirgends halten, nicht verweilen, nimmer sich besinnen
                        kann, und während er Eine gibt, quellen schon tausend Andere dazwischen. Er ist der
                        rechte Fabulant wie damals jene Novellisten der 
Spanier und 
Italiener, mit der großen Leidenschaft der Fabel, der nichts als nur erzählen will, nur unerschöpflich
                        immer erzählen. Er sucht nicht »Probleme«; er prüft keine »Fragen«; er will nichts
                        zeigen; er will nichts schildern; er will nichts beweisen – das schöne Lügen ist seine
                        Lust. Er ist weder Naturalist noch Psychologe und ist, wenn man will, doch beides:
                        er ist der Erzähler, der Alles thut, was die Erzählung brauchen, und Alles läßt, was
                        sie entbehren kann – das Bedürfniß der Erzählung allein ist immer sein einziges Gesetz.
                        Er hat unvergeßliche Profile gezeichnet. Er hat Documente des Lebens gegeben. Er hat
                        in der 
Juckercomtesse eine weibliche Psychologie geschaffen, die ihm 
Bourget neiden könnte. Aber das läuft so nebenbei mit. Was er will, ist nur die Erzählung,
                        der üppige Reiz von vollen, bunten, wunderbaren Stoffen. Die Erzählung ist ihm Anfang
                        und Ende. So hat er, was ich sonst von Keinem in dieser ganzen breiten Zeit der Literatur
                        weiß: er hat den stillen, guten Zauber der naiven Kunst, wie er an den alten Märchen
                        des Volkes ist. Man kann sagen, daß es niemals ein rechter Roman ist. Man kann zweifeln,
                        ob es nach den Normen der Schulen überhaupt etwas ist. Aber man kann nicht leugnen,
                        daß es sehr schön ist.
 
                     Arthur Schnitzler3 ist anders. Er ist ein großer Virtuose, aber einer kleinen Note. 
Torresani streut aus reichen Krügen, ohne die einzelne Gabe zu achten. 
Schnitzler darf nicht verschwenden. Er muß sparen. Er hat wenig. So will er es denn mit der
                        zärtlichsten Sorge, mit erfinderischer Mühe, mit geduldigem Geize schleifen, bis das
                        Geringe durch seine unermüdlichen Künste Adel und Würde verdient. Was er bringt, ist
                        nichtig. Aber wie er es bringt, darf gelten. Die großen Züge der Zeit, Leidenschaften,
                        Stürme, Erschütterungen der Menschen, die ungestüme Pracht der Welt an Farben und
                        an Klängen ist ihm versagt. Er weiß immer nur einen einzigen Menschen, ja nur ein
                        einziges Gefühl zu gestalten. Aber dieser Gestalt gibt er Vollkommenheit, Vollendung.
                        So ist er recht der 
artiste nach dem Herzen des »Parnasses«, jener 
Franzosen, welche um den Werth an Gehalt nicht bekümmert, nur in der Fassung Pflicht und Verdienst
                        der Kunst erkennen und als eitel verachten, was nicht seltene Nuance, malendes Adjectiv,
                        gesuchte Metapher ist.
 
                     Der Mensch des 
Schnitzler ist der 
österreichische Lebemann. Nicht der große Viveur, der international ist und dem 
Pariser Muster folgt, sondern die 
wienerisch bürgerliche Ausgabe zu 
fünfhundert Gulden monatlich, mit dem Gefolge jener gemüthlichen und lieben Weiblichkeit, die auf dem Wege von
                        der Grisette zur Cocotte ist, nicht mehr das Erste, und das Zweite noch nicht. Diesen
                        Winkel des 
Wiener Lebens mit seinen besonderen Sensationen, wo sich wunderlich die feinsten Schrullen
                        einer sehr künstlichen Cultur und die ewigen Instincte des menschlichen Thieres vermischen,
                        hat er künstlerisch entdeckt und er hat ihn, indem er ihn gleich zur letzten Vollkommenheit
                        des Ausdrucks brachte, künstlerisch erschöpft. Es ist ihm gelungen, was die 
Goncourts als Beruf des Künstlers setzten: 
apporter du neuf; und es ist ihm gelungen, die definitive Form seiner Neuerung zu geben. Das ist sehr
                        viel. Gerade heute können es Wenige von sich sagen. Nur darf er freilich, weil sein
                        Stoff ein weltlicher, von der Fläche der Zeit ist, Wirkungen in die Tiefe der Gefühle
                        nicht hoffen, und von seinem feinen, aber künstlichen Geiste mag das Wort des 
Voltaire von 
Marivaux gelten: 
Il sait tous les sentiers du coeur, il n’en connaît pas le grand chemin. 
                     Ich verstehe sehr gut, daß Manchen das nicht genügt. Ich verstehe nur nicht, daß man
                        es an den 
Franzosen preist, aber an einem 
Wiener schmäht. Im »
Anatol« sind ein paar Sachen, die den Vergleich mit den besten Meistern der Gattung vertragen
                        und an flüssiger Anmuth, herbem Dufte, heiterer Melancholie 
Aurélien Scholl, 
Henri Lavedan und diesen vergötterten 
Courteline nicht zu scheuen haben. So wäre es wohl Pflicht der Directoren, einmal ihre Kraft
                        auf der Bühne zu prüfen. Es wäre Pflicht der »
Burg«, das »
Märchen« zu bringen, das ja nun wenigstens am »
Volkstheater« endlich kommen soll.
 
                     Im »
Anatol« sind vorne, als Prolog, ein paar Verse:
 
                     
                         Durch die Zweige brechen Lichter,Flimmernd auf den blonden Köpfchen;Scheinen auf
                              den bunten Polstern,Gleiten über Kies und Rasen,Gleiten über das Gerüste,Das wir flüchtig
                              aufgeschlagen.Wein und Winde klettert aufwärtsUnd umhüllt die lichten Balken.Und dazwischen
                              farbenüppigFlattert Teppich und Tapete,Schäferscenen keck gewoben,Zierlich von Watteau
                              entworfen Eine Laube statt der Bühne,Sommersonne statt der Lampen,Also spielen wir
                              Theater,Spielen uns’re eig’nen Stücke,Frühgereift und zart und traurig,Die Komödie
                              uns’rer Seele,Uns’res Fühlens Heut’ und Gestern,Böser Dinge hübsche Formel,Glatte
                              Worte, bunte Bilder,Halbes, heimliches Empfinden,Agonien, EpisodenManche hören zu,
                              nicht Alle Manche träumen, manche lachen,Manche essen Eis  und mancheSprechen sehr
                              galante Dinge  Nelken wiegen sich im Winde,Hochgestielte weiße NelkenWie ein Schwarm
                              von weißen Faltern Und ein BologneserhündchenBellt verwundert einen Pfau an 
                      
                     Diese Verse sind sonderbar. Sie könnten von 
Emanuel Geibel oder 
Paul Heyse sein: sie haben diese leichte Sicherheit, das mühelose Glück, die reife Anmuth der
                        
goetheisirenden Epigonen, die in fertigen Formen fertige Gedanken, fertige Gefühle wiegen.
                        Aber sie könnten auch von 
Maurice Barrès oder 
Nietzsche sein: so sehr haben sie an ihrer feinen, hochmüthigen, empfindlichen Grazie den scheuen
                        Duft der letzten Stunde. Sie sind wie von einem herrisch heiteren Classiker, der unter
                        die blassen und hilflosen Sucher der Decadence gegangen wäre. Sie sind von 
Loris.
4 
                     Loris, der 
Hugo von Hofmannsthal heißt, schreibt Prosa und Verse, Kritisches und Lyrisches. An der Prosa merkt man
                        den Lyriker gleich: sie schwillt rhythmisch; schwüle Tropen, dunkle, üppige und schwere
                        Farben, fremde Harmonien drängen, und was doch als Feuilleton gemeint ist, klingt
                        wie ein griechischer Chor. Aber an den Versen wieder merkt man den kritischen Philosophen:
                        sie sind mit quälenden Gedanken, moralischen Fragen und athemlosen Zweifeln der Bildung
                        ängstlich beladen, daß man ihnen lieber die freiere Gelassenheit ungebundener Aphorismen
                        wünschen möchte. So ist in ihm ein unerschöpflicher Gesang, der, wie er geflissentlich
                        auch trockene, nüchterne, steife Themen des Verstandes wähle, nicht verstummen mag,
                        daß ich für ihn immer an das Wort des 
Anatole France über 
Banville denken muß, den »
der liebe Gott in seiner Güte mit der Seele einer Nachtigall schuf«. Aber es ist auch eine unermüdliche Dialektik in ihm, die mit kritischen Reflexionen
                        die schöne Vogelfreude der Reime und Rhythmen immer wieder verstört.
 
                     Sein Stil trifft und er trifft ohne Mühe. Das nervöse Suchen, das Tasten mit unzulänglichen
                        Vergleichen, die Qual um das fliehende Wort, das den rechten Gedanken, die letzte
                        Note der Stimmung nicht geben will, sind ihm fremd. Er hat die Gnade der zeichnenden,
                        malenden Form. So möchte man seine fröhliche Gesundheit rühmen, die sonst heute der
                        gepeinigten Jugend fehlt. Aber die lauschende Empfindlichkeit, das helle Gesicht und
                        Gehör seiner Nerven für die leisesten Reize ist von einer unheimlichen Feinheit, und
                        aus seinen seltsam erregten Sätzen kommt es, ohne daß man vor sich diese Empfindung
                        zu rechtfertigen wüßte, immer wie der kranke Hauch aus den fieberschwülen Kissen einer
                        schmerzlichen und blassen Frau.
                     Das Erste, was er schrieb, war eine 
Studie über die 
physiologie de l’amour des 
Bourget, dieses müde Testament der erotischen Verzweiflung. Eine 
Studie über die »Mutter« folgte. Das waren für seine siebzehn Jahre wunderliche Stoffe, und auch in seinen
                        Gedichten sind Züge eines reifen, traurigen Cynismus. So konnte er in den Ruf eines
                        vor der Zeit erfahrenen, ja verdorbenen Jünglings kommen, und ich habe, als ich öffentlich
                        seine Verse las, Hofräthe sich schamhaft entrüsten gesehen, die mit Mühe später durch
                        saftige Anekdoten wieder zu versöhnen waren. Aber wenn er bisweilen von unreinen Dingen
                        spricht, geschieht es doch immer in reiner Rede, vielleicht weniger aus Tugend, als
                        aus Erzogenheit, aus Eleganz, aus Geschmack, der denn überhaupt seine vernehmlichste
                        Gabe ist. Er wird nicht craß, wird nicht brutal, und die Grenzen der guten Gesellschaft
                        sind immer gewahrt. Er brauchte sich nicht erst »auszutoben«; es gab keine Periode
                        der »
Räuber«, sondern der Jüngling begann gleich wie ein Mann, der sich gebändigt, geklärt und
                        in der Gewalt hat. So hat er vielleicht die perverseste Natur, aber er hat sicherlich
                        die reinlichsten Werke unter den Genossen.
 
                     Schöne Dinge, die funkeln, sind seine Leidenschaft. Schmale weiße Hände, die prunkenden
                        Betten der Borgia und der Vendramin, Sänften, Fächer und Pokale, Reiher, Silberfische,
                        Oleander, die vollen Farben und die breiten Klänge der Renaissance kommen immer wieder.
                        Man möchte ihn unter jene trunkenen Apostel der Schönheit stellen, wie die 
englischen Prärafaeliten, die 
französischen Symbolisten, die vor der rauhen und gemeinen Oede des täglichen Lebens in blühende
                        Träume der Vergangenheit entlaufen. Aber er liebt es, mit dem Naturalismus zu kokettiren,
                        und neulich hat er diese naturalistische Formel der Kunst geschrieben: »
Denn wie das rebellische Volk der großen Stadt hinausströmte auf den heiligen Berg,
                           so liefen unsere Schönheits- und Glücksgedanken in Schaaren fort von uns, fort aus
                           dem Alltag, und schlugen auf dem dämmernden Berg der Vergangenheit ihr prächtiges
                           Lager. Aber der große Dichter, auf den wir Alle warten, heißt Menenius Agrippa und
                           ist ein weltkluger, großer Herr: der wird mit wundervollen Rattenfängerfabeln, purpurnen
                           Tragödien, Spiegeln, aus denen der Weltlauf gewaltig, düster und funkelnd zurückstrahlt,
                           die Verlaufenen zurücklocken, daß sie wieder dem athmenden Tage Hofdienst thun, wie
                           es sich ziemt.«
 
                     Also: Epigone und Moderner, lyrisch und kritisch, krank und gesund, pervers und rein,
                        Symbolist und Naturalist zugleich – er scheint ein unerschöpfliches Räthsel. Vielleicht
                        ist es diese Fülle unverträglicher Motive gerade, die seinen Reiz, seinen Zauber auf
                        die Kenner gibt. Aber ich glaube: es mag auch noch was Anderes sein.
                     Die Literatur hat allerhand gelernt. Sie ist ohne Zweifel technisch heute über der
                        Vergangenheit. Sie hat bessere Mittel. Das Vermögen wächst. Man 
kann heute mehr als vor zwanzig Jahren. Es fehlt nur an der Verwendung. Man weiß mit allen
                        reichen Kräften nichts zu schaffen. Zwar sind neue Stoffe gewonnen: alle Winkel des
                        Lebens werden geplündert, und besondere Fälle seltener Seelen werden gezeigt. Aber
                        die heimlichen Fragen der Menschen, die Qualen der Bildung, die tausend Zweifel um
                        den Sinn der Schöpfung fehlen. Das bange Gemüth hat keinen Trost. Das 
Wilhelm-Meisterliche, die sittliche Erziehung, der Rath in den Aengsten und Nöthen der Seele ist
                        dieser neuen Kunst verloren. Das Weltliche, Vergängliche hält sie vom Ewigen weg.
 
                     Einige Franzosen, seit 
Bourget und 
Barrès, haben das jetzt erkannt. Die 
Deutschen kümmern sich nicht. Bei uns ist 
Loris der Einzige, der immer von moralischen Fragen handelt. Er sucht die Stellung des
                        Menschen zur Welt, sucht Sinn und Bedeutung der Dinge, sucht Gewißheit für den Gang
                        des Lebens. Er will Erweckung und Erbauung. Er hat das 
Wilhelm-Meisterliche.
 
                     (Ein Schluß-Artikel folgt.)