Neulich hat man wieder überall lesen können, es sei schade, daß wir, die »jungen 
Wiener«, wie man uns noch immer nennt, vom Erotischen nicht loskommen können oder wollen.
                        Es war anläßlich der »
Frau Bertha Garlan«, des neuen Romans von 
Schnitzler, der ja hier schon kurz 
angezeigt worden ist. 
Schnitzler hat sich zuerst unter uns zu einer gewissen Ruhe und Reife durchgewunden, und das
                        sichere Verhältniß seiner Mittel zu seinen Absichten, sein Ernst und wohl auch die
                        manchmal fast eher wissenschaftliche als künstlerische Deutlichkeit seiner Darstellung
                        für den Verstand sichern ihm den Beifall auch solcher Leser, die sich unseren Wirkungen
                        sonst zu entziehen wissen. Man hat denn auch jenem Buche die guten Eigenschaften des
                        Autors, den gelassenen Vortrag, die strenge Anordnung, die feine Ausführung, die kluge
                        Eintheilung und den besonnenen Geschmack, gern zugestanden, aber sich dann doch wieder,
                        weniger gegen ihn besonders als gegen uns Alle, mit einiger Verwunderung beklagt,
                        wie seltsam es sei, daß es für uns, die wir nun doch auch schon allmälig ausgebraust
                        haben könnten, noch immer auf der ganzen Welt 
nichts als die Liebe und die Beziehung des Mannes zum Weibe zu geben scheine. Man nimmt, indem man uns dies vorhält, eine böse Miene an, weist auf die Zustände
                        unseres Vaterlandes, den Haß der Nationen, das Ringen der Classen hin, die wir in
                        unserem Dampf und Dunst verliebter Regungen gar nicht zu gewahren scheinen, und ermahnt
                        uns, väterlich oder höhnisch, je nach dem Wesen und der Bildung des Warners, doch
                        endlich gescheit zu werden und uns auf den Ernst des Lebens zu besinnen. Das Publicum,
                        das es liest und hört, muß rein denken, daß wir nur den ganzen Tag auf Abenteuer laufen,
                        und wundert sich wohl, was für ein Schlag von Menschen das sein mag, dem die ganze
                        Welt nur ein verbuhltes Spiel ist. Es ist an der Zeit, daß wir uns einmal rechtfertigen
                        oder doch entschuldigen.
 
                     Zunächst: Wir haben das Erotische nicht erfunden, und wir haben es nicht in den Roman
                        gebracht. Man thut ja wirklich, als sei der vorher ganz unschuldige Roman erst durch
                        uns ins Sinnliche entartet. Nun, der moderne Roman tritt zuerst in 
Frankreich im siebzehnten Jahrhundert auf, und wir haben aus jener Zeit über sein Wesen ein
                        sehr gelehrtes Buch von 
Daniel Huet, 
Cistercienser, Bischof von 
Soissons, Mitglied der 
Académie, der neben allerhand theologischen und philosophischen Schriften und Dissertationen
                        zur Lehre des 
Cartesius selbst einen Roman: »
Diane de Castro«, und eben jenen Tractat über den Roman: »
Sur l’origine des romans« (1670), verfaßt hat. Darin heißt es bündig: »
L’amour doit estre le principal sujet du Roman« – der Hauptgegenstand des Romans ist die Liebe. Wem aber vielleicht jene Zeit verdächtig
                        ist, der mag, ohne sich bei der Lyrik der Renaissance oder unserer Minnesänger aufzuhalten,
                        weil man ja dem Gedichte seine leidenschaftlichen Neigungen verzeiht und nur, wie
                        es scheint, gerade vom Roman eine ernstere Haltung verlangt, gleich zur Antike gehen.
                        Er findet bei 
Ovid den Vers:
 
                     sogar die Tragödie, die doch jede andere Gattung an 
gravitas, Ernst, Bedeutung und Charakter übertreffe, habe es doch immer mit der Liebe zu thun.
                        
Ovid fügt dann einen Katalog galanter Abenteuer an, die durch Tragödien berühmt geworden
                        sind, und ruft aus: »Mir würde die Zeit fehlen, alle 
tragicos ignes zu schildern, und mein ganzes Buch würde nicht hinreichen, auch nur ihre Namen alle
                        aufzuzählen.« Wenn nun also selbst das Drama, die heilige Feier des Dionysos, die
                        »
große Angelegenheit für die ganze festliche Bürgerschaft«, wie 
Burckhard gesagt hat, seit 
Euripides allmälig ganz im Erotischen aufgegangen war, so dürfen wir uns nicht wundern, es
                        gar auf den Seitenwegen der Dichtung immer mächtiger zu finden. Ja, der Roman, den
                        die 
Griechen in der großen Zeit nicht gekannt haben, ist bei ihnen überhaupt ausdrücklich nur
                        zur Darstellung des Erotischen entstanden. Wir haben über seine Anfänge und seine
                        Entwicklung ein vortreffliches Buch von 
Erwin Rhode, dem Autor der »
Psyche«
1, die neben 
Burckhard’s »
Griechischer Cultur« und 
Nietzsche’s »
Ansichten des dionysischen Cult« wohl das Tiefste enthält, was noch über das griechische Wesen gesagt worden ist.
                        In diesem »
griechischen Roman«
2 wird nun gezeigt, wie der Roman eigentlich von gelehrten Arbeiten abstammt, nämlich
                        von den Sammlungen erotischer Legenden, in welchen sich die Historiker gefielen. »
Zwar die sogenannten Logographen scheinen, trotz ihres Interesses an verborgenen Stamm-
                           und Ortssagen, solche Liebessagen nicht sonderlich beachtet zu haben, so wenig wie
                           Herodot bei all seiner Aufmerksamkeit auf seltsame und charaktervolle Volksüberlieferungen.
                           Einen merkwürdigen Uebergang zu den eigentlich gelehrten Historikern bildet auch hier
                           Ktesias, der in der wirkungsvoll und mit voller Absicht auf eine ergreifende und rührende
                           Wirkung vorgetragenen romantischen Liebesgeschichte des Meders Stryangäus und der
                           Sakerkönigin Zarinäa vielleicht unter den Griechen das früheste Beispiel einer ausführlich
                           und mit bewußter Kunst prosaisch-poetischer Darstellung erzählten Liebesnovelle hinstellte.
                           Ohne Zweifel lenkte dann die glänzende Behandlung einzelner erotischer Volkssagen
                           auf der athenischen Bühne die lebhafte Aufmerksamkeit der Sammler auf den hier noch
                           zu hebenden Schatz volksthümlicher Poesie, umso mehr, da die in eigener Productionskraft
                           allmälig ermattete Zeit in einem halb ästhetischen, halb culturhistorischen Interesse
                           sich der Betrachtung alterthümlicher und kindlicher Zustände und Vorstellungen in
                           der Verborgenheit des eigenen und fremden Volkslebens überall mit Eifer zuwendete.
                           Bei solchen Nachforschungen entdeckte man nun auch jene heimlich blühenden Blumen
                           einer bis dahin von der künstlich ausbildenden Dichtung wenig berührten Fülle schöner
                           Liebeslegenden, von deren Reichthum uns nun plötzlich von allen Seiten zuströmende
                           Beiträge überzeugen.« In diese habe man nun hineingegriffen, und indem man das »
Grundthema: die Schicksale eines Liebespaares« mit der Lust an abenteuerlichen und ungewöhnlichen Schilderungen verband, sei eben
                        die neue Gattung des Romans erst entstanden. »
Zu irgend einer Zeit floß das erotische Element hinüber in die ethnographisch-philosophische
                           Idylle: aus der Verschmelzung dieser disparaten Bestandtheile entstand der griechische
                           Roman. In dieser Verschmelzung gab die prosaische, ethnographische Erzählung gewissermaßen
                           den derberen, materiellen Körper her, in welchen die Erotik, aus ihrer poetischen
                           Höhe herniedersteigend, als belebende Seele eintrat, dem für sich allein Unbeweglichen
                           Bewegung und Empfindung mittheilend  Soweit sich überhaupt von einer inneren Entwicklung
                           und Ausbildung der Kunstform des griechischen Romans reden läßt, zeigt sich eine solche
                           in dem wechselnden Verhältniß, in welches sich, wetteifernd um die Oberherrschaft,
                           seine beiden Grundbestandtheile zu einander stellen. Anfänglich überwiegt ganz unzweifelhaft
                           das, aus der Reisefabulistik übernommene, rein stoffliche Element (Antonius Diogenes).
                           Es tritt aber bald mit der ihm beigestellten Erotik in einen engeren, durch die rhetorische
                           Darstellung vermittelten Bund (Jamblichus); es muß sich, bei Heliodor, gefallen lassen,
                           zur Illustrirung eines tiefer liegenden Sinnes zu dienen; es wird, bei Xenophon von
                           Ephesus, seiner selbständigen Bedeutung ganz entkleidet, um einzig der erotischen
                           Erzählung zum belebten Hintergrunde zu dienen; es wird endlich, in dem Mosaik rhetorischer
                           und polyhistorischer Studien, aus welchem Achilles Tatius seinen Roman zusammensetzt,
                           so gut wie das erotische Element und das Allerlei der trödelhaften Kenntnisse des
                           Autors zum bloßen Stoff seiner geschmacklosen stylistischen Kunststücke herabgesetzt.«
 
                     Also: die Gattung des Romans entsteht überhaupt erst durch die Verbindung zweier Elemente,
                        des Erotischen mit einer »abenteuerlichen Reisepoesie«. Der Roman entsteht, um einen
                        besonderen Fall der Liebe zu zeigen, aber nicht für sich allein, abgelöst von der
                        Welt, wie es die erotische Legende gethan, sondern in möglichst starken Beziehungen
                        auf das seltsame und bunte Treiben der Menschen. Die Darstellung einer erotischen
                        Begebenheit in der Breite der sinnlichen Welt macht das Wesen des 
griechischen Romans aus. Und dabei ist es eigentlich immer geblieben; nur daß die Autoren später
                        ihr Paar nicht erst in fremde Länder reisen lassen, sondern im eigenen das Fremde
                        und Seltsame zu finden wissen, das sie brauchen, um die Weite des Lebens auszudrücken,
                        von welcher sich der besondere Fall abheben soll. Ein Liebesfall und die weite Welt
                        – das sind die zwei Elemente aller Romane, die wir schließlich im »
Wilhelm Meister« und in den »
Wahlverwandtschaften« wie in der »
Manon« und der »
Madame Bowary« finden. Die Entwicklung hat nur gesucht, ihre Verbindung, die anfangs, nach 
Rhode, »
eine ganz mechanische von zwei disparaten Theilen« war, allmälig so zu vergeistigen, daß sie eine organische wurde. Diese Forderung,
                        die wir heute stellen, macht den einzigen Unterschied zwischen dem griechischen Roman
                        und dem modernen aus. Das soll nun gewiß nicht heißen, daß es uns verboten wäre, den
                        Roman abzuändern und einmal einen zu versuchen, in welchem eines der beiden Elemente
                        fehlt. Gattungen ändern sich in der Entwicklung, und es wird manchmal gewünscht, der
                        alten Form einen neuen Inhalt zu geben. Aber dann sage man: Wir wollen keine Romane
                        mehr; oder man sage: Wir wollen eine neue Form des Romans, ohne das erotische Element,
                        welches wir so oder so zu ersetzen gedenken. Man schreie aber nicht über Entartung,
                        wenn unsere Autoren sich in ihren Romanen an das Erotische halten, das immer ein Element
                        des Romans gewesen ist. Sie können sich darauf berufen, damit nur durchaus in der
                        guten Tradition zu sein.
 
                     Nun mag es ernst denkenden Menschen freilich seltsam vorkommen, wie denn eine eigene
                        Gattung blos zur Darstellung des Erotischen entwickelt und durch einige tausend Jahre
                        gepflegt werden konnte. Sie unterschätzen nämlich wohl die Bedeutung, welche die Fälle
                        der Liebe für den Geist des Menschen haben. Es ist vielleicht kein Zufall, daß es
                        Gelehrte sind, die den 
griechischen Roman vorbereiten. Es ist vielleicht dieselbe Leidenschaft, das Leben zu erkennen,
                        welche sie zugleich nach den Sitten fremder Länder forschen und auf Erzählungen von
                        der Liebe achten läßt. Es scheint, daß das Erotische ein Mittel ist, sich des Sinnes
                        unseres Daseins zu bemächtigen.
 
                     Von 
Dante gar nicht zu reden, dessen ganze ungeheure Anschauung Gottes und der Welt auf dem
                        Erotischen ruht. Worin er sich übrigens mit jedem aufrichtigen Naturforscher unserer
                        Zeit trifft, der, nach dem Urgrunde trachtend, zuletzt in der winzigen Zelle auf das
                        Geheimniß der ewig keimenden Liebe stößt. Es ist schon so: Wo und wie wir immer das
                        Räthsel, in das wir getaucht sind, berühren wollen, die Liebe ist die Form, in der
                        es uns allein erscheint, an der allein wir es ahnen, und wenn wir in allen Ländern,
                        über alle Berge, durch alle Thäler gezogen sind, wisssen wir am Ende nicht mehr, als
                        dem Jüngling die erste Sehnsucht nach dem Mädchen sagt, und die Mutter mit dem Kinde
                        an der Brust bleibt das höchste Symbol, in welchem wir den Sinn des Lebens verehren
                        dürfen. 
                        
Hermann Bahr.