Freiwild.
                     
                     Es war 1897. Prinz 
Alonso und Herr 
Eugen Brüll hatten sich noch nicht gegen das Duell erklärt. Doch galt es darum nicht für ritterlich,
                        feig zu sein. Auch hatte sich die neue Literatur mit ihren Zweifeln und spöttischen
                        Fragen noch der Soldaten nicht bemächtigt. Wenn der Offizier auf der Bühne erschien,
                        war es als Zierde der Nation oder doch des Salons. Dem 
Major von Tellheim verwandt oder 
Veilchenfresser und 
Reiflingen. Noch hatte sich 
Hartleben nicht erdreistet, noch drohte kein 
Beyerlein und 
Bilse. Da begab es sich, daß ein junger Dichter, schon vom ersten Ruhm gestreift, aber
                        unzufrieden mit sich selbst, hochmütig gegen sich selbst, und darum nach großen Entschlüssen
                        begierig, die seiner Kraft mehr abzufordern hätten, als sie bisher ihm gewähren konnte,
                        zudem von jener leichten Schwermut gerührt, die uns betört, wenn wir uns zum ersten
                        Mal von den süßen Mädchen und den Spielen der Liebe trennen, weil wir da nämlich noch
                        nicht wissen können, daß es doch niemals ein Abschied für immer ist – in dieser zugleich
                        melancholisch entsagenden und doch heftiger, als er noch jemals einen Trieb in sich
                        vernommen haben mochte, zum Ernst des Lebens, zum Wirklichen hin, zu den großen Mächten
                        des Daseins gedrängten Stimmung des unruhigen jungen Dichters begab es sich, daß er
                        an das Verhältnis des Offiziers in unserer heutigen Welt geriet. Ich denke, er hatte
                        einen Kater; so fing es wohl wahrscheinlich an. Wir sind dann immer sehr gekränkt,
                        wenn wir eines Tages, erwachend, gewahren, daß irgend ein liebes kleines Mädchen doch
                        nicht das ganze große Leben ist; und verargen ihr das sehr und rächen uns, indem wir
                        uns plötzlich nun auf die »Probleme« werfen, zu denen uns erfahrene und reife Freunde doch schon immer geraten
                        haben. Ihre Erfahrung, ihre Reife ist freilich meistens zuletzt wohl eigentlich mehr
                        nur ein leiser Neid, sie können uns nicht töricht glücklich sehen. Und wer später,
                        in Gefahren, durch Leiden, aus Freuden, wirklich reif geworden ist und den wahren
                        Sinn des Lebens erfahren hat, merkt erst, daß ihn vielleicht das dümmste kleine Mädchen
                        Tieferes lebendiger lehrt, als es die Lösung der höchsten Probleme vermag. Dazwischen
                        aber, in der leeren Pause von verlangender Jugend zur erfüllenden Männlichkeit hinüber,
                        kommt es uns riesig gescheit vor, den »Problemen« zu dienen, worunter die ernsten
                        Menschen alles verstehen, was gerade zu dieser Zeit in den Beziehungen der Menschen
                        und ihrer gesellschaftlichen Ordnung wankend und fragwürdig und verbesserlich geworden
                        ist. Wenn sie freilich weniger ernst, aber dafür mit der menschlichen Natur vertrauter
                        wären, würden sie begreifen, daß ihr von außen her niemals zu helfen ist, sondern,
                        wie Vetter 
Hamlet sagt, aus »
des Herzens Herzen« allein, und daß es darum doch eigentlich, um die Sehnsucht der Menschheit zu heilen,
                        nur ein einziges Problem gibt, nämlich: ihren Geist und ihr Gemüt so durch Erschütterung
                        aufzutreiben, daß ihr die Gewalt, jede Form der Gewalt, ganz unerträglich und alles,
                        was bisher Ordnung hieß, unmöglich, aber auch entbehrlich wird. Bis aber einer erst
                        dahin gekommen ist, dies an sich selbst zu begreifen, flickt jeder gern eine Zeit
                        an den »Fragen der Gesellschaft« herum.
 
                     Das hat auch 
Schnitzler durchmachen müssen und daher hat sein 
Stück eine so merkwürdige Haltung. Etwas sehr Entschlossenes nämlich, dem man doch leise
                        den inneren Zwang anhört. Wie wenn jemand sehr eindringlich von einer Sache, deren
                        Wichtigkeit er sich nachdrücklich vorstellt, sprechen will, aber sich sehr zusammennehmen
                        muß und Mühe hat, dabei zu bleiben, weil er sich insgeheim immer an nähere Gedanken
                        verliert, die stärker sind. Er beißt sich auf die Lippen, um sich nicht merken zu
                        lassen, wie zerstreut er ist: denn dieses ganze Stück ist nur aus dem Verstande geholt,
                        in seiner Tiefe weiß er nichts davon, da bereiten sich still schon die schönen Erfüllungen
                        seiner Reife vor. Wozu vielleicht auch noch etwas anderes kam. Mir will scheinen,
                        als ob ich heraushören würde, wie gern er als junger Mensch im 
Burgtheater gesessen ist. Die Luft des alten 
Burgtheaters haucht mich hier an und in manchen Szenen wird mir fast, als ob sie mir die Hände
                        des Herrn 
Hartmann entgegenstrecken würden. Was uns gefällt, steckt uns unwillkürlich an; was auf uns
                        wirkt, dem möchten wir gleichen, und so wird, gar in bildsamer Jugend, unsere innere
                        Form durch äußere Gewohnheit oft mehr als von unserem Wesen bestimmt. Wir merkten
                        es selbst ja damals kaum, aber unwillkürlich nahm der Geist der jungen Leute von 1890
                        doch immer die Gebärden des alten 
Burgtheaters an, dieser sehr auserwählten, aber recht abgekühlten, niemals ganz natürlichen, immer
                        hochanständigen, gezügelten Kunst, die so höflich war, immer artig an den Zuhörer
                        zu denken. Sie benahm sich stets, wie man tut, wenn im Zimmer ein großer Spiegel ist:
                        man verleugnet sich ja deswegen nicht, man bleibt natürlich, aber doch anders natürlich,
                        als man ist, wenn man sich nicht sieht. Man weiß dann eben von sich, wie man wirkt,
                        und wenn man sich auch nun deshalb erst recht anstrengt, ungezwungen zu sein, so wird
                        es doch nur eine herablassende Ungezwungenheit, die jede wahre Vertraulichkeit einsamer
                        Gedanken entfernt. Herablassend, leutselig, immer wie ein hoher Herr, der einmal im
                        schlichten Jägerrocke unter das gemeine Volk geht, war diese Kunst des alten 
Burgtheaters und davon drang etwas in jedes Gespräch jener jungen Leute von 1890 ein und ein bißchen
                        ist davon noch am »
Freiwild« hängen geblieben. Schauspieler, die in der Coulisse stehen, um das Stichwort zu
                        erwarten, pflegen sich dann, auf das Zeichen des Inspizienten, plötzlich einen Ruck
                        zu geben, der förmlich ihre ganze Natur zu spannen und zu strecken scheint. Das ist
                        es, was ich an diesem Stücke manchmal zu spüren glaube, wie sich der Dichter einen
                        Ruck gibt. Es ist schon der 
Schnitzler, aber ein gespannter, gestreckter, der den Kopf zurückwirft und sich ein bißchen
                        auf die Zehen stellt. Und ich spüre daran erst recht die ganze Kraft und Schönheit
                        seiner späteren Entwicklung, die keine Mahnung des Inspizienten mehr braucht und nicht
                        mehr vor den Spiegel tritt.
 
                     In der Literatur wird »
Freiwild« bleiben als das erste Soldatenstück unserer Zeit. 
Hartleben hat später durch sehr feines Detail, das er sehr geschickt an eine wasserblaue Handlung
                        band, stärker 
gewirkt und 
Beyerlein hat es dann 
zum groben theatralischen Effekt gedreht. Ich meine übrigens, die Serie ist noch nicht aus, es wird noch mancher kommen,
                        weil das Thema noch nicht erschöpft ist: in ihrem letzten Wesen ist die Existenz eines
                        Soldaten in unserer Zeit noch nicht getroffen worden. Unsere Zeit verlangt von jedem,
                        der in der gesellschaftlichen Ordnung als Mitregent leben will, daß ihm diese zur
                        zweiten Natur werden muß. Die Bestimmung des Soldaten verlangt von ihm, immer für
                        den Moment bereit zu sein, in welchem die bürgerliche Ordnung plötzlich wieder aufgehoben,
                        die zweite Natur wieder zerrissen wird. Zu ihrem Schutze, um nicht von jedem Feinde
                        umgerannt zu werden, braucht sie Männer von einer Art, die unter ihrem Schutze doch
                        eigentlich gar nicht gedeihen kann. Damit aus einem Menschen ein guter Bürger werde,
                        müssen in ihm eben jene Kräfte vertilgt oder doch verkümmert werden, die den guten
                        Soldaten machen. Je menschlicher einer ist, je gütiger und gerechter, je mehr Herr
                        über unsere tierische Wildheit, ein desto schlechterer Soldat wird er im Kriege sein.
                        Und je verwegener, leidenschaftlicher, grausamer er sich in der Schlacht bewähren
                        wird, desto schwerer wird er sich in die bürgerliche Ordnung finden können, deren
                        Verteidigung aber dann schließlich doch wieder der Sinn seiner ganzen Existenz ist.
                        Der große Reiz, den der soldatische Beruf noch immer für viele hat, besteht wahrscheinlich
                        darin allein, daß es zu diesem Berufe gehört, auf ein Zeichen aus aller Ordnung ausbrechen
                        zu können und wieder zum ungezähmten Urmenschen zu werden, den uns Erziehung, Kultur,
                        Gesetz verleugnen lehrt. Es wird vom Soldaten also eigentlich verlangt, daß er auf
                        Kommando jetzt zum Urmenschen, jetzt zum Staatsbürger werden kann. Und wenn ich mir
                        einen nachdenklichen und mit sich aufrichtigen Menschen denke, dem dies bewußt würde,
                        so wäre, das wohl ein rein tragischer Fall, der seinen Dichter verdiente.
 
                     Die Aufführung ist im Einzelnen ungewöhnlich gut. Vor allem wirken 
Kutschera und 
Jensen durch eine merkwürdige Kraft, die die etwas lehrhaften Sachen, die sie mitunter räsonierend
                        zu sagen haben, persönlich zu beleben weiß. Dann Fräulein 
Erl durch ihren wunderhübschen Ton, der nur leise zuweilen noch ein bißchen unfrei klingt.
                        
Kramer, als Karinski, ist in der Haltung vortrefflich, aber er bleibt der Figur die Wildheit,
                        den Zug zum Abenteuer, die Falte vom gebornen Croupier schuldig. Sonst ist noch Herr
                        
Höfer zu nennen, mit dem ergötzlichen Armeedeutsch, das er dem Lieutenant Vogel gibt. Die
                        Wirkung war stark: wie in einer Volksversammlung klatschten die Leute den verwegenen
                        Reden der gesunden Vernunft begeistert zu. Ja siehst du, 
Arthur so geht’s: vor acht Jahren, als du sie schriebst, sind es Frechheiten gewesen, die
                        man dir gar nicht verzeihen wollte, und jetzt sind’s schon Wahrheiten für die kompakte
                        Majorität geworden, und noch zehn Jahre, und es werden Banalitäten sein, hoffentlich,
                        gegen die sich dann eine neue Jugend wieder ingrimmig empören muß – das ist der Lauf
                        der Welt. 
                        
Hermann Bahr.