10. Juni. Sehr schön ist die ruhig kreisende Bewegung, die 
Schnitzlers Roman hat. Langsam steigt er auf und scheint dann in der Luft zu liegen, auf großen Flügeln.
                        Ich könnte das nicht. Ich möchte das vielleicht auch gar nicht. Aber es ist sehr gut,
                        daß es einer kann und will, und wird mir selbst durch das Sentimentalische seiner
                        Art nicht gestört. Dieses kommt wohl daher, daß ihm um 
Oesterreich leid ist. Während ich finde, daß um dieses 
Oesterreich, das einem leid tun kann, nicht schade ist; jenes 
Oesterreich aber, das wir lieben, haben wir in uns selbst, und es wird nur unsere Schuld sein,
                        wenn es nicht erscheint. Wir alle spüren die starke Zukunft, welcher die Menschen
                        hier fähig sind. Sie brauchen nur den Mut, die Vergangenheit abzutun, um aus ihr zu
                        sich zu kommen. Da sind wir nun aber dort, wo ich die Juden nicht verstehe. Sie hätten
                        es so leicht. Ich beneide sie. Sie haben keine verfallenen Schlösser und keine Basalte.
                        Sie stört nicht, zu lebendiger Zeit, unnützes Erinnern. Diese ganze rostige Kultur,
                        mit der wir uns schleppen, in der wir, von den Vätern her, ersticken, ist ihnen fremd.
                        Sie hätten es so leicht: Benutzt die Gegenwart mit Glück! Sie könnten uns dabei die
                        besten Helfer sein. Uns sitzt jedem, von den Großeltern her, noch irgendeine liebe
                        dumme 
Theresianische Zärtlichkeit im Gemüt und macht uns das Blut dick. Darin sind wir gute 
Deutsche, denn deutsch ist es, an nichts tiefer zu leiden als an seiner Vergangenheit. Der
                        Ruf des Todes ist es, der uns alles Leben hemmt. Da hätten nun die Juden vor uns dies
                        voraus, daß sie nicht unsere Vergangenheit haben. Wie lang ist’s denn her, daß sie
                        erst eingelassen wurden? Warum nützen sie das nicht aus? Warum helfen sie uns nicht,
                        wenn uns Erinnerung feig und kläglich macht? Wie oft muß ich mit dem elenden 
Großvater hadern, der durch mein Blut spukt und mir mit seinem Dunst des 
Statthaltereirats plötzlich den Verstand betäubt! Wie oft werde ich von mir wieder auf der albernsten
                        Rührung ertappt, bis ich mich selber am Ohr nehme: Wach auf, das bist ja gar nicht
                        Du, das ist schon wieder eine von den frommen Großmamas, die in Dir flennt! Daher
                        das verfluchte Biedermeiern, in Gedanken und Gefühlen. Wir biedermeiern ja gar nicht,
                        es biedermeiert in uns. Was aber biedermeiert in den Juden denn? 
Wie können sie 
an einer Vergangenheit leiden, die sie gar nicht haben? Statt aber eben darin ihren Stolz und den Mut zu sich selbst zu finden, züchten
                        sie sich jetzt unsere Vergangenheit an, was natürlich gar nicht möglich ist und sie
                        nur lächerlich und verächtlich macht. Alle leiden wir an jenem unnützen Erinnern. Wir erkennen, daß wir genau so viel leisten und vor
                        der Zukunft einst gelten werden, als es uns gelingt, Vergangenheit zu vergessen und
                        Vergangenheit vergessen zu machen. Eben das aber, was wir vergessen wollen, daran
                        spritzen sich die Juden jetzt ein künstliches Erinnern ein. Das lustigste Beispiel
                        ist mir immer die Geschichte mit dem Vaterunser, die ich so gern erzähle. Ein Jude
                        sagte einmal, irgend etwas sei ihm unvergeßlich. Und um den Grad der Unvergeßlichkeit
                        recht zu beteuern, sagte er: Unvergeßlich wie das Vaterunser! Ich stutzte. Ich versuchte
                        das Vaterunser aufzusagen. Es gelang mir nicht. Ich bin ganz fromm erzogen, meine
                        
Mutter war fast, was man eine Betschwester nennt, und in 
Salzburg, wohin ich dann ins 
Gymnasium kam, wurden wir sehr kirchlich gehalten. Es gelang mir aber nicht, ich fand schon
                        den dritten Satz nicht mehr. Nun war ich neugierig, ich fing meine Freunde zu prüfen
                        an. Zunächst die, welche in katholischen Klöstern erzogen sind, in 
Kremsmünster oder bei den 
Schotten. Siehe da, sie wußten alle das Vaterunser nicht mehr. Wenn ich aber an einen Juden
                        kam, der wußte es. Ich habe das Experiment zuletzt noch in 
Berlin an unserm Tisch im 
Savoy gemacht. Da ist ein 
Baron, den die 
Jesuiten in 
Kalksburg erzogen. Dann ist ein 
Elsässer da, der einmal zu den großen Hoffnungen der katholischen Literatur gehörte. Wir drei
                        versuchten nun, zusammen das Vaterunser zu buchstabieren. Es gelang uns nicht. Aber
                        da kam lachend 
Schalom Asch und half uns aus, der wußte es. Ich habe jetzt wenigstens ein Mittel, Juden zu erkennen.
                        Ich frage einen bloß, ob er das Vaterunser weiß.
 
                     In 
Schnitzlers Roman ist auch manches Beispiel dafür. Er selbst, dies spürt man überall, er will ja mit
                        aller Kraft heraus: von der angelogenen Vergangenheit weg und aufs Leben los, auf
                        unser eigenes Leben! Jene jüdische Rührung über alles, was die 
Juden nicht angeht, hat er zu einer Stille, Weiche, Güte der Darstellung gezügelt, die einen künstlerischen
                        Reiz aus ihr macht. Freilich fühlt man ihr bisweilen seine Neigung an, wegzutreten,
                        beiseite zu stehen, nicht mitzutun, wozu Gerechtigkeit so viele von uns verführt.
                        Er hat eine Neigung, gekränkt zu sein, wo es vielleicht nützlicher wäre, wütend zu
                        werden (er kann mir allerdings antworten, daß sich Gefühle nicht kommandieren lassen).
                        Ins Freie kommt man freilich, wenn man weggeht. Aber ist es die Freiheit von Flüchtlingen,
                        die wir wollen? Wird 
Oesterreich frei, wenn man sich von ihm frei macht? Und an die Kraft der stillen Arbeit, von
                        der ihr immer sprecht, kann ich nicht mehr glauben. Still gearbeitet wird in 
Oesterreich seit hundert Jahren; und es ist noch immer still.
 
                     Und noch etwas kann ich an 
Schnitzler nicht verstehen. Erstens teilt er den Irrtum der Juden in 
Oesterreich, als ob ihr Fall ein besonderer wäre. Das ist er nicht. Sie werden unterdrückt, gewiß.
                        Aber es werden auch 
die Tschechen, die 
Ruthenen, die Kroaten, die 
Rumänen, die 
Slovenen und die 
Italiener und so weiter unterdrückt. 
Der Jude hat bei uns nicht dasselbe Recht wie irgendein deutscher Christ der herrschenden
                        Klassen. Aber der Arbeiter hat es auch nicht. Gar nicht zu reden davon, daß auch der
                        Protestant, oder wer keine Konfession hat, hinter den Rechten der Katholiken zurücksteht. Statt sich nun aber zu den anderen Unterdrückten zu schlagen, biedern sich die Juden
                        entweder den Mächtigen an oder isolieren sich, ich weiß nicht, was dümmer ist. Und
                        zweitens (was mich auch in diesem Roman zuweilen befremdet) schädigen sich die Juden
                        durch eine Forderung, die man ihnen nie bewilligen wird: 
sie fordern Liebe. Das spüre ich in diesem Roman wieder so stark. 
Die Juden sitzen da und denken traurig nach, warum man sie nicht gern hat. Aber ich glaube nicht, daß sich das durch ein Gesetz ändern läßt. Ich muß auch gestehen,
                        daß es mir durchaus unbegreiflich ist, wie man 
darunter leiden kann. Mich haben gewiß viele tausend Menschen gern, aber ich habe in meinem ganzen Leben
                        noch keine Minute darüber nachgedacht, es hat mich immer gefreut. Was ist das für
                        ein Wunsch, von aller Welt geliebt zu sein? Ich stelle mir das gar nicht so schön
                        vor.