Drei Acte von jungen Autoren, die rasch bekannt geworden sind und jeder, in seinem Lande, auf
                        seine Weise, einen ganz bestimmten Punkt der Entwicklung darstellen. Man muss sich
                        ja hüten, Vergleiche gewaltsam zu ziehen, wo vielleicht nur der Zufall gewaltet hat.
                        Aber hier trifft es sich doch hübsch, dass man, ohne sich irgendwie zu zwingen, unwillkürlich,
                        indem man die Stücke nebeneinander betrachtet, ein deutliches Gefühl bekommt, wie
                        in den drei Ländern die jungen Autoren, die ungestüm mit dem Bruche der Vergangenheit
                        begangen, doch eigentlich ihre Stärke darin hatten, dass sie sich von Anfang an durchaus,
                        freilich ohne es selbst zu wissen, in der Tradition der heimischen Litteratur bewegten.
                     Zuerst »
Episode« von 
Schnitzler. Das ist eine jener graciösen, ein bischen frechen, dann wieder melancholischen,
                        Sentimentales und Cynisches seltsam vermischenden Scene, die, unter dem Titel 
Anatol gesammelt, (1893) zuerst dem jungen Autor die Aufmerksamkeit der Kenner zuzogen. Der Band enthält
                        lebhaftere, dramatischere Scenen, wie das 
Abschiedssouper, oder die 
Frage an das Schicksal, die dann auch schon früher gespielt worden sind. Aber es gibt vielleicht k
leine, die zugleich für die ganze Art dieser Dialoge charakteristischer wäre und in
                        der so viele Zeichen und Knoten sind, die auf seine spätere Entwicklung deuten, gleichsam
                        einzelne Hacken, auf die man sozusagen seine späteren Wendungen und Entfaltungen aufhängen
                        könnte. Es geschieht hier eigentlich gar nichts. Der eine der zwei jungen Leute, 
Max, erwartet den angekündigten Besuch einer Dame, mit der er vor Jahren einmal verkehrt
                        hat. Der andere, sein Freund 
Anatol, kommt zu ihm mit der Bitte, da er verreisen will, ihm ein Packet von Briefen aufzuheben.
                        Er hat wieder einmal gebrochen und ist in jener merkwürdigen Stimmung, wo man sehnsüchtig in die Zukunft schaut, die uns vielleicht doch noch das Glück
                        bringt und von der Vergangenheit nichts wissen will. »Ich suche ein Asyl für meine
                        Vergangenheit,« sagt er; der Freund soll ihm die Papiere aufheben. 
Max fragt, warum er sie nicht lieber einfach verbrenne. Aber das kann er nicht, er hängt
                        an diesen Erinnerungen: »Das ist so meine Art von Treue. Keine von Allen, die ich
                        liebte, kann ich vergessen. Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle –
                        Du mußt mir gestatten, manchmal zu Dir zu kommen, nur um zu wühlen – dann bin ich
                        wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie auf’s Neue an.« Das ist ihm so wichtig, dass er die Päckchen fast pedantisch zu ordnen pflegt, jedes
                        zierlich durch ein Band zusammengehalten und jedes mit irgend einer Aufschrift: einem
                        Vers, einem Wort, einer Bemerkung, die genügen, das ganze Erlebnis in seiner Erinnerung
                        zu erwecken, einmal ist eine philosophische Sentenz, wie »Es ist leichter, die Richtung einer Flamme zu verändern als sie zu entzünden«, was bedeutet, dass
                        er eben in diesem Falle die Richtung einer Flamme verändert hat, die ein anderer entzündet
                        hat; ein anderesmal ist 
es eine Photographie von ihr, an der Seite ihres Bräutigams, mit dem zierlichen Vers:
 
                     
                        
                           - »Um mir die böse Laune wegzufächeln,
 
                           - Denk’ ich an Deinen Bräutigam, mein Kind.
 
                           - Ja dann, mein süßer Schatz, dann muss ich lächeln,
 
                           - Weil’s Dinge giebt, die gar zu lustig sind.«
 
                        
                      
                     Noch ein anderesmal genügt ein einziges Wort: »Ohrfeige.« Und indem die Beiden plaudern,
                        so ein Päckchen um das andere durch die Finger gleiten lassen, fällt ihnen ein ganz
                        dünnes auf: da ist nichts darin als Staub, der Staub von einer Blume und dazu hat
                        er »
Episode« geschrieben. »Es war nur eine Episode, ein Roman von zwei Stunden  .  .  .  nichts!  .  .  .  Ja, Staub! – Dass von so viel Süßigkeit nichts Anderes zurückbleibt, ist eigentlich
                        traurig.«
 
                     Damals hat ihn das eigentlich sehr stolz gemacht. Er ist sich ordentlich groß vorgekommen,
                        fast wie »einer von den Gewaltigen des Geistes«, wenn er so »unter seinen ehernen Schritten diese Mädchen und Frauen zermalmte«,
                        und hat sich dabei fast wie das Schicksal selber gefühlt: »Weltgesetz«, dachte ich
                        – »ich muss über Euch hinweg!« Nun, mit den Jahren wird man ruhiger, man wird bescheidener,
                        man fühlt sich kleiner. Man weiß auch, dass das »Zermalmen« nicht so gefährlich ist.
                        Sie richten sich schon wieder auf, sie trösten sich, diese Mädchen und Frauen. Freilich,
                        es giebt auch Ausnahmen – wie gerade die in jener 
»Episode. Eigentlich eine ganz gewöhnliche Geschichte: Er am Klavier, die grünrothe Ampel
                        brennt, sie zu seinen Füßen, den Kopf in seinem Schoß, und ihre verwirrten Haare funkelnd
                        grün und roth, während seine linke Hand leise über die Tasten huscht – »meine Rechte
                        hat sie an ihre Lippen gedrückt  .  .  .  Ich kenne sie erst seit zwei Stunden, ich weiß auch, dass ich sie nach dem heutigen
                        Abend wahrscheinlich niemals wieder sehen werde – das hat sie mir gesagt – und dabei
                        fühle ich, dass ich in diesem Augenblick wahnsinnig geliebt werde. Das hüllt mich
                        so ganz ein – die ganze Luft war trunken und duftete von dieser Liebe  .  .  .  .  .  Und ich hatte wieder diesen thörichten göttlichen Gedanken: Du armes, – armes Kind!
                        Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zu Bewußtsein. Während ich den
                        warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der
                        Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. Sie war wieder 
Eine von Denen gewesen, über die ich hinwegmußte. Das Wort selbst fiel mir ein, das
                        dürre Wort: Episode. Und dabei war ich selber irgend etwas Ewiges  .  .  .  Ich wußte auch, dass das »arme Kind« nimmer diese Stunde aus ihren Sinn schaffen
                        könnte – gerade bei der wußt’ ich’s. Oft fühlt man es ja: Morgen früh bin ich vergessen. Aber da war es etwas Anderes.
                        Für Diese, die da zu meinen Füßen lag, bedeutete ich eine Welt; ich fühlte es, mit
                        welch’ einer heiligen, unvergänglichen Liebe sie mich in diesem Momente umgab. Das
                        empfindet man nämlich; ich lasse es mir nicht nehmen. Gewiss konnte sie in diesem
                        Augenblick
e nicht Anderes denken, als mich – nur mich. Sie aber war für mich jetzt schon das
                        Gewesene, Flüchtige, die Episode.« Der Freund fragt nun, was sie denn eigentlich war, die er in seinem Ampellicht wie
                        eine Märchengestalt schildert, und es stellt sich heraus, dass es eben jene 
Bianca, eine Dame vom Circus gewesen ist, die 
Max nun gerade erwartet. 
Max wird nun skeptisch; er glaubt nicht an die »heilige, unvergängliche Liebe
,« der kleinen Person – für ihn ist sie nicht die Märchengestalt; für ihn ist sie eine
                        von den tausend Gefallenen, denen die Phantasie des Träumers neue Jungfräulichkeit borgt. Für ihn ist sie nichts
                        Besseres, als »hundert Andere, die durch Reifen springen oder kurzgeschürzt in der letzten Quadrille
                        stehen.« Er nimmt die Menschen ruhig hin, wie sie sind, während sie 
Anatol immer nur durch das bunte Glas seiner Stimmung sieht. Wer hat nun Recht? 
Anatol pocht auf sein Gefühl, das ihn nicht betrügen kann: er hat es damals gefühlt, dass
                        sie ihn wahrhaft geliebt hat. Und nun kommt sie. 
Anatol tritt zur Seite, die Beiden begrüßen sich und wir sind nun sehr neugierig was sie
                        sagen wird, wenn der einzig Geliebte plötzlich vor ihr steht. Er tritt vor und verbeugt
                        sich, 
Bianca nimmt das Lorgnon, 
Max erklärt: Ein alter Bekannter! Mit der sicheren Anmuth, in welcher Frauen ihre Vergeßlichkeiten
                        zu verstecken wissen, streckt sie ihn, indem sie in ihren Erinnerungen sucht, freundlich
                        die Hand hin: »Ah, wahrhaftig, wir kennen uns ja  .  .  .  Natürlich, wir kennen uns sehr gut!« 
Anatol ruft erregt, indem er ihre Hände fasst: »
Bianca!« 
Und sie beeilt sich, immer mit derselben leeren Liebenswürdigkeit: »Wo war es nur, dass wir uns trafen? Nicht wahr  .  .  .  es war in St. 
Petersburg?« Da lässt 
Anatol ihre Hand los: »Es war  .  .  .  nicht in 
Petersburg, mein Fräulein.« Und er geht. »Was hat er denn? fragt die Dame, hab ich ihn beleidigt?«
                        Und sie erfährt jetzt erst Alles von 
Max: »Anatol, 
Kla – Klavier – Ampel  .  .  .  so eine rothgrüne – hier in der Stadt – vor drei Jahren.« Ah, jetzt erinnert sie
                        sich. Aber er ist schon fort. »Wie schade  .  .  .  Sie müssen mich bei ihm entschuldigen. Ich habe ihn verletzt, den guten, lieben Menschen.«
                        Sie erinnert sich jetzt seiner ganz genau – »Gewiss
. Aber  .  .  .  er sieht irgend Jemanden in 
Petersburg zum Verwechseln ähnlich  .  .  .  Und dann: wenn man drei Jahre lang an Jemanden nicht denkt, und er steht plötzlich da – man kann sich doch nicht an Alles erinnern.« 
Max lacht und zieht sie zu sich auf den 
Fauteuil neben dem Kamin, um mit ihr zu plaudern, von ihren Reisen, von allerhand Abenteuer,
                        von dem »Ähnlichen« in 
Petersburg.
 
                     Der 
Act ist ein kleines Juwel an leichter Anmuth, Laune und gleichsam unabsichtlichem Geiste.
                        Das perlt so herab als ob 
es alles selbstverständlich wäre und man ist eigentlich verwundert, wenn man es jetzt,
                        sieben Jahre später, kritisch prüft, zu sehen, wie viel schwere Litteratur eigentlich
                        darin steckt. Dem Inhalte nach, der Form nach und auch wenn man es auf die späteren
                        Werke des Autors bezieht. Man muß sich nur erinnern, dass das damals die Zeit der
                        großen Anklagen gegen das Weib war. Wir waren damals alle ein bischen von 
Strengberg angesteckt, wir wütheten alle gegen die lügenhaft
-vergessliche, leichtsinnige Frau, der es selbst mit der Liebe nicht ernst ist. Wie
                        hübsch weiß das aber 
Schnitzler zu wenden, indem er zeigt, dass wir selbst, wir Männer, eben das, was wir den Frauen
                        so vorwerfen, das Verwechseln von Stimmung mit Leidenschaft, ganz genau ebenso practizieren
                        und uns noch zum Ruhme rechnen! Und wie schön sind da überall Motive angeschlagen,
                        die der Dichter in seinen späteren Werken erst ausspinnt! »Und das macht mir das Leben
                        so vielfältig und wandlungsreich, dass mir eine Farbe die ganze Welt verändert!«,
                        sagt der 
Anatol hier. Klingen da nicht schon die 
Verse aus dem 
Paracelsus an:
 
                     
                        
                           - »Was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben
 
                           - Und schien es noch so groß und tief zu sein!
 
                           - Mit wilden Söldnerschaaren spielt der eine,
 
                           - Ein andrer spielt mit tollen Abergläubischen:
 
                           - Vielleicht mit Sonnen, Sternen irgendwer –
 
                           - Mit Menschenseelen spiele ich. Ein Sinn
 
                           - Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht
 
                           - Es fließen ineinander Traum und Wachen,
 
                           - Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.
 
                           - Wir wissen nichts von andern, nichts von uns.
 
                           - Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.«
 
                        
                      
                     Und ist das nicht eigentlich das Grundthema der ganzen 
Schnitzler’schen Dichtung? Ist es nicht der Inhalt der 
Liebelei, dass ein Mensch ernst nimmt, was nur ein Spiel gewesen ist und so aus einer Episode
                        ein Drama wird? Nicht der Inhalt des 
Kakadu, dass umgekehrt, aus einem vermeintlichen Spaße plötzlich blutiger Ernst geworden
                        ist? Nicht das Verhängnis der 
Beatrice, dass auch sie in jeder Stimmung die Welt wie durch ein neues Glas sieht.