Zur Frage des Schlüsselromans, [Mitte Dezember 1904?, vermutlich unveröffentlicht]

Zur Frage des Schlüsselromans
Vor ungefähr einem Jahr erschien ein Roman, für den eine bisher in schriftstellerischen Kreisen ungewohnte Reklame gemacht und gegen den zugleich der Vorwurf erhoben wurde, dass er Zustände und Menschen schildere, die dem Autor sehr genau bekannt seien. Den Roman habe ich bis heute nicht gelesen, den Vorwurf öfters und ich wunderte mich immer von neuem darüber. Der gegenteilige Vorwurf, – dass nämlich ein Autor Dinge und Menschen schildere, die ihm nicht bekannt seien, wäre mir einleuchtender erschienen. Vor wenigen Tagen nun fand ich in einer Kritik über den gleichen Roman die folgenden Worte:
Der Kritiker selbst räumt an anderer Stelle ein, dass die Privatverhältnisse eines Künstlers den Leser nichts angehen und dass persönliche Betrachtungsweise eines Kunstwerkes unangebracht sei. Trotzdem hält er es in diesen Falle für geboten »die unwahrhaftige und treulose Verwendung persönlicher Motive bei der wachsenden Reklame für dieses Zeitbild ins rechte Licht zu stellen.«
Ich frage nun, wer hat in diesem Fall die beanstandete Büberei begangen, d. h. den Roman sozusagen erst zum Schlüsselroman gemacht? Niemand von den Fernerstehenden wusste, dass der Autor in einzelnen Gestalten des Romans seinen Vater, seine Braut, seine Couleurbrüder geschildert oder doch gemeint hat. Erst der Kritiker hat diesen Umstand einer weiteren Oeffentlichkeit mitgeteilt. Woher nahm er das Recht dazu? Kennt er für seinen Teil den Vater, die Braut, die Couleurbrüder des Autors so genau, dass er für die Identität der wirklichen Personen mit den Figuren des Romans durchaus einzustehen den Mut findet? Ist seine Menschenkenntnis so ausser Zweifel, dass er eine solche Identität in jedem Falle tatsächlich beschwören könnte und wenn es so wäre, wie darf er es sich anmassen, der ganzen Welt anzuvertrauen, nicht nur der in dem Roman genannte Herr X., sondern mir bekannte Herr Y., welcher als Herr X. im Roman erscheint, ist ein Saufbruder; nicht nur Herr M., der im Roman vorkommt, ist ein Schuft, sondern sein Modell, Herr O., nicht das Fräulein Z. hat Herrn T., sondern eine junge Dame, auf die ich hiemit mit den Fingern weise, hat den Autor des Romans betrogen? |War der Autor vielleicht indiskret, weil er hätte vermuten können, dass einige mit den Verhältnissen vertraute Leute in seinen Romanfiguren einige wirklich existierende Menschen, in einigen, im Roman angedeuten Schicksalen solche erkennen würden, die sich tatsächlich zugetragen haben, – so hat der Kritiker diese Indiskretion gewissermassen verhundert und vertausendfacht. Ohne den mildernden Umstand, der dem Autor vielleicht zuzubilligen war, der unwiderstehliche Drang ein persönliches Erlebnis dichterisch zu gestalten und sich von ihm zu befreien.
Ist es denn überhaupt schon jemals geschehen, dass ein Autor Menschen zu schildern unternommen hätte, die er nicht kennt oder wenigstens zu kennen glaubt. Und hat man jemals einem Autor einen Vorwurf daraus gemacht, wenn in einer seiner Figuren mit glänzenden Eigenschaften ein lebendiges Modell wiedererkannt wurde? Immer aber nimmt man es ihnen übel, wenn sie Individuen von minderer Trefflichkeit oder gar Bösewichte dem Leben nachzuzeichnen versuchen. Dabei wird es sich schon aus technischen Gründen niemals um einen Vorgang handeln, den man, wie es gerne geschieht, dem Portraitieren gleichsetzen könnte. Während es sich bei der Photographie um die Anwendung eines physikalischen Gesetzes handelt, wonach die Umrisse eines Gegenstandes oder einer Person mit mathematischer Genauigkeit auf einer lichtempfindlichen Platte reproduziert werden, ist der Vorgang, nach dem das Konterfei eines lebendigen Menschen in einem Roman entsteht, ein so unendlich komplizierter, dass ein Dutzend Romanportraits von dem gleichen Individuum innerhalb eines Dutzend verschiedener künstlerischer Rahmen sich alle zwölf wesentlich von einander un|terscheiden würden. Dies träfe auch zu, wenn ein Autor tatsächlich einmal versuchte ein Individuum mit vollkommmener, portraitähnlicher Treue in sein Werk hineinzustellen.
Gewiss gibt es skandal- oder rachsüchtige Autoren, die gelegentlich eine mässige schriftstellerische Begabung zur Befriedigung ihrer hässlichen Gelüste benützen. Doch wenn es geschieht fallen die aus einem solchen Einzelfall entstehenden Nachteile gar nicht ins Gewicht gegenüber dem allgemeinen Vorteil, der in der unbehinderten Freiheit des Schaffens liegt.
Jedem Schriftsteller ist es schon begegnet, dass man in irgend einer seiner Figuren einige ganz verschiedene wirkliche Menschen zu erkennen geglaubt hat. Es kann auch irgend einmal ein Schauspieler eine Figur kopieren, an die der Autor überhaupt nicht gedacht hat.
Zuweilen auch führt der Autor eine Figur weiter als ihr Urbild innerhalb des Lebens sich zu entwickeln vermochte. Er ist es, der den Sinn einer bestimmten menschlichen Erscheinung erst in Wahrheit erfüllt. Er vermag es Figuren in erfundene Situationen hineinzustellen, in die das Urbild niemals geraten konnte und statuiert so gleichsam ein Exempel, zu dem es dem Schöpfer an der nötigen Konsequenz gefehlt hat.

 

|(Literarisches Echo, Dezember 1904, S. 352.
Christliche Welt, Marburg XVIII, S. 44.)

 

Keller betont einmal mit Nachdruck er stelle nur Selbsterlebtes dar und werde es immer so halten.