Vor ungefähr einem Jahr erschien ein
Roman, für den eine
bisher in schriftstellerischen Kreisen ungewohnte Reklame gemacht und gegen den
zugleich der Vorwurf erhoben wurde, dass er Zustände und Menschen schildere, die dem
Autor sehr genau bekannt seien. Den
Roman habe ich bis heute nicht gelesen, den Vorwurf öfters und ich wunderte
mich immer von neuem darüber. Der gegenteilige Vorwurf, – dass nämlich ein Autor
Dinge und Menschen schildere, die ihm nicht bekannt seien, wäre mir einleuchtender
erschienen. Vor wenigen Tagen nun fand
ich in einer
Kritik über den gleichen
Roman die folgenden Worte:
Der
Kritiker selbst räumt an
anderer Stelle ein, dass die Privatverhältnisse
n
eines Künstlers den Leser nichts angehen und dass persönliche Betrachtungsweise eines
Kunstwerkes unangebracht sei. Trotzdem hält er es in diesen Falle für geboten »
die unwahrhaftige und treulose
Verwendung persönlicher Motive bei der wachsenden Reklame für dieses Zeitbild ins
rechte Licht zu stellen.«
Ich frage nun, wer hat in diesem Fall die beanstandete Büberei begangen, d. h. den
Roman sozusagen erst zum
Schlüsselroman gemacht? Niemand von den Fernerstehenden wusste, dass der
Autor in einzelnen Gestalten
des
Romans seinen Vater, seine
Braut, seine Couleurbrüder geschildert oder doch gemeint hat. Erst der Kritiker hat
diesen Umstand einer weiteren Oeffentlichkeit mitgeteilt. Woher nahm er das Recht
dazu? Kennt er für seinen Teil den Vater, die Braut, die Couleurbrüder des Autors
so
genau, dass er für die Identität der wirklichen Personen mit den Figuren des
Romans durchaus einzustehen den
Mut findet? Ist seine Menschenkenntnis so ausser Zweifel, dass er eine solche
Identität in jedem Falle tatsächlich beschwören könnte und wenn es so wäre, wie darf
er es sich anmassen, der ganzen Welt anzuvertrauen, nicht nur der in dem Roman
genannte Herr X., sondern mir bekannte Herr Y., welcher als Herr X. im Roman
erscheint, ist ein Saufbruder; nicht nur Herr M., der im Roman vorkommt, ist ein
Schuft, sondern sein Modell, Herr O., nicht das Fräulein Z. hat Herrn T., sondern
eine junge Dame, auf die ich hiemit mit den Fingern weise, hat den Autor des Romans
betrogen
.↓?↓ |War der Autor vielleicht indiskret, weil er hätte vermuten können, dass einige
mit den Verhältnissen vertraute Leute in seinen Romanfiguren einige wirklich
existierende Menschen, in einigen, im Roman angedeuten Schicksalen solche erkennen
würden, die sich tatsächlich zugetragen haben, – so hat der Kritiker diese
Indiskretion gewissermassen verhundert und vertausendfacht. Ohne den mildernden
Umstand, der dem Autor vielleicht zuzubilligen war, der unwiderstehliche Drang ein
persönliches Erlebnis dichterisch zu gestalten und sich von ihm zu befreien.
Ist es denn überhaupt schon jemals geschehen, dass ein Autor Menschen zu schildern
unternommen hätte, die er nicht kennt oder wenigstens
zu kennen glaubt. Und hat man jemals einem Autor einen Vorwurf daraus gemacht, wenn in einer seiner Figuren mit
glänzenden Eigenschaften ein lebendiges Modell wiedererkannt wurde? Immer aber nimmt
man es ihnen übel, wenn sie Individuen von minderer Trefflichkeit oder gar Bösewichte
dem Leben nachzuzeichnen versuchen. Dabei kann↓wird↓ es sich schon aus technischen Gründen niemals um einen Vorgang handeln, den
man, wie es gerne geschieht, dem Portraitieren gleichsetzen könnte. Während es sich
bei der Photographie um die Anwendung eines physikalischen Gesetzes handelt, wonach
die Umrisse eines Gegenstandes oder einer Person mit mathematischer Genauigkeit auf
einer lichtempfindlichen Platte reproduziert werden, ist der Vorgang, nach dem das
Konterfei eines lebendigen Menschen in einem Roman entsteht, ein so unendlich
komplizierter, dass ein Dutzend Romanportraits von dem gleichen Individuum innerhalb
eines Dutzend verschiedener künstlerischer Rahmen sich alle zwölf wesentlich von
einander un|terscheiden würden. Dies würde↓träfe↓ auch zutreffen, wenn ein Autor tatsächlich
einmal versuchte ein Individuum mit vollkommmener, tatsächlich portraitähnlicher Treue in sein Werk hineinzustellen.
Gewiss gibt es skandal- oder rachsüchtige Autoren, die gelegentlich eine mässige
schriftstellerische Begabung zur Befriedigung ihrer hässlichen Gelüste benützen. Doch
wenn es geschieht fallen die aus einem solchen Einzelfall entstehenden Nachteile gar
nicht ins Gewicht gegenüber dem allgemeinen Vorteil, der in der unbehinderten
Freiheit des Schaffens liegt.
Jedem Schriftsteller ist es schon begegnet, dass man in irgend einer seiner Figuren
einige ganz verschiedene wirkliche Menschen zu erkennen geglaubt hat. Es kann auch
irgend einmal ein Schauspieler eine Figur kopieren, an die der Autor überhaupt nicht
gedacht hat.
Zuweilen auch führt der Autor eine Figur weiter als ihr Urbild innerhalb des Lebens
sich zu entwickeln vermochte. Er ist es, der den Sinn einer bestimmten menschlichen
Erscheinung erst in Wahrheit erfüllt. Er vermag es Figuren in erfundene Situationen
hineinzustellen, in die das Urbild niemals geraten konnte und statuiert so gleichsam
ein Exempel, zu dem es dem Schöpfer an der nötigen Konsequenz gefehlt hat.
Keller betont einmal mit Nachdruck er stelle nur Selbsterlebtes dar und werde es immer so halten.