B17: Brandes, Georg 17 (2) Schnitzler an Brandes, Seite 27

G.C.H.F.P.
(Südtirol) 4.7.908.
Seis am Schlern
Verehrtester Herr Brandes,
Sie haben wohl recht, dass in meinem Buch zwei Romane ent-
halten sind, und das künstlerisch genommen, der Zusammenhang kein
absolut notwendiger sein mah. (Ich tröste mich gleich damit, dass an-
dre Autoren manchmal auch glauben, sie hätten einen Roman geschrieben
- und es ist gar keiner.) Schon während meiner Arbeit hab ich immer ge-
fühlt, dass es so kommen wird - aber ich konnte - oder wollte mir
nicht helfen. Denn so sorgfältig das Buch componiert, es ist doch
erst so recht geworden, während ich es schrieb. Denken Sie, was eigent-
lich der Kern war, um den sich allmälig das ganze gruppierte: Eine
Scene, in der ein thörichter Bruder den Geliebten seiner Schwester als
«Verführer" zur Rede stellt und von ihm glänzend geschlagen wird. Es
hätte damals, als mir dieser kleine Einfall kam, ein Stück werden
sollen. (Dieser ganze Einfall ist jetzt in einem beinah überflüssigen
Sätzchen des 5. Capitel enthalten.) Dann schwebte mir eine Novelle vor:
ein junges Mädchen, das sich aus theoretischen Gründen zu einem Ge-
liebten entschliesst und sich in ihre Stellung nicht hineinfinden kann.
Dann spukte mir eine Komödie im Kopf, mit dem Titel die Entrüsteten,
wofür schon die meisten Figuren, die sich jetzt im Roman vorfinden, fest-
standen, und noch einige andre. Nun dürfen Sie natürlich nicht glauben,
dass ich diese Einfälle und Vorsätze sozusagen mit Absicht ineinander
verschmolzen habe - sondern sie flossen ineinander, ganz ohne mein Zu-
thun - sodass ich unmöglich daran hätte etwas ändern können. Ich habe
nichts hineingestopft, weil ich eben Gelegenheiten suchte, gewisse An-
sichten oder Aphorismen anzubringen - sondern im Laufe der Erzählung,
vielmehr schon während der Vorarbeiten, war jede Gestalt mit ihren An-
schauungen dahingerückt, wo sie nun stehen geblieben ist. Mir war das
Verhältnis Georgs zu seiner Geliebten immer geradeso wichtig, wie seine
- 2 -
Beziehung zu den verschiedentlichen Juden des Romans - ich habe eben
ein Lebensjahr des Freiherrn von Wergenthin geschildert, in dem er
über allerlei Menschsen und Probleme und über sich selbst ins Klare
kommt. Manche von diesen Problemen sind mir selbst allerdings erst
im Laufe der Arbeit zu ihrer eigentlichen Bedeutung erstanden;-
obwohl sie ja von Anbeginn in den Geschehnissen enthalten waren;
insbesondere das Problem der Schuld und der Verantwortung. Ganz flüch-
tig, gewissermassen wie ein Spass, kam mir sogar der Gedanke, das
Buch "Die Mörder" zu nennen oder "Die Schuldig-Unschuldigen"- (ein
Spass wie gesagt) - aber fiel es Ihnen nicht auch auf, wie sowohl Georg
als Heinrich Hermann als Leo Golowski jeder ein Menschenleben auf dem
Gewissen haben? Georg metyphysisch oder in der Einbildung der Mörder
seines ungeborenen Kindes - Heinrich lässt seine Geliebte aus Eitelkeit
- oder "Trägheit des Herzens" (um den Titel des neuen Wassermannschen
Romans zu citieren) zu Grunde gehen - Leo bringt seinen Gegner im Duell
um. (Und keinem von ihnen ist innerlich freier zu Muth, als dem, der
just im üblichen Wortsinn getötet hat!) - Was Sie an einer Stelle Ihres
Briefes andeuten, ist mir auch in den Sinn gekommen: ob es nicht klüger,
künstlerisch klüger gewesen wäre, Georg zum Liebhaber einer Jüdin zu
machen. Ich konnte nicht. Die Gestalt der Anna stand von Anfang an eben
so unwidersprechlich als katholisch da. Und es kam mir ja schliesslich
nicht darauf an, irgendwas nachzuweisen: weder dass Christ und Jude sich
nicht vertragen, oder dass sie sich doch verträgen können - sondern ich
wollte, ohne Tendenz-Menschen und Beziehungen darstellen - die ich ge-
sehen habe (ob in der Welt draussen oder in der Plantasie bliebe sich
gleich.) Es freut mich so sehr, dass Sie inneren Reichtum in den Buch