A220: Der Sekundant, Seite 6

Geliebte. Ihr Gesicht ist entstellt vom Fett, unter ihren
ein Förderung und Sicherung des Tarifvertrags¬
Trotzdem ist die Episode des Volksbundes nicht vergeblich
Augen — den einst so schönen — hängen Säcke und ihre
Ausea
rechts. Daß er neben diesen Fragen des Arbeiterrechte für
gewesen. Aus den Kreisen, die sich damals mit Ernst
Oberlippe schatten graue Härchen. Der Dichter grüßt, bleibt
die durch den gewerkschaftlichen Zusammenschluß bereits er
Francke zu gemeinsamer Arbeit fanden, sind die Männer ge
aber nicht stehen, den er weiß, daß sie ein böses Mundwerk
starkten Arbeiterschichten auch die wirtschaftlich Schwächsten
nicht vergaß und sich für den Schutz der Heimarbeiter, der kommen, und die Parteien entstanden, die das deutsche Volk
hat, und er erinnert sich nicht gerne, daß er sie je geliebt hat.
Jugendlichen, der Kinder mit aller Güte seines Herzens ein= nach dem äußeren und inneren Zusammenbrechen vor dem
Manchmal geht er in den Louvre und steigt hinauf in die
setzte, ist selbstverständlich. Ebenso übernahm er während des Chaos gerettet haben. Auch die Demokratische Partei ge¬
Galerie, wo die Kathedrale hängt. Er betrachtet sie
Krieges zu seinen vielen großen Arbeitsgebieten auch noch hörte zu diesen Parteien, und Francke war ihr von Anfang
lange Zeit und seufzt...
an beigetreten. Und der vom Volksbund vertretene Ge¬
(Uebertragen von Hans B. Wagenseil.)
die Leitung des Arbeitsausschusses für Kriegerwitwen- und
Waisenfürsorge und hat dort, unterstützt von der bekannten danke, der auch das Lebenswerk Franckes beseelte: „Inter¬
empfand ich mein Hiersein, dieses Aug in Aug=Sitzen und allen Seiten aus, ob niemand da ist, der sie kennt und ihr
vielleicht verraten könnte, daß ihr Gatte tot ist. Aber es
Sprechen mit Agathe, das leise Flattern der Fenstervorhänge,
das schweigsame Erscheinen und Verschwinden des Dieners sind ja lauter fremde Leute — braune, gelbe Gesichter, auch
Der Sekundant
ein Indianer sitzt am Spieltisch mit einem ungeheuren roten
keineswegs als traumhaft, sondern eher als eine andere
Fredernschmuck auf dem Kopf. Da steht Aline in der Türe.
Novelle von
geringere Art von Wirklichkeit. Aus dieser andern Wirk¬
lichkeit schrillte auch das Pfeifen des kleinen Dampfers zu Wie, sie ist uns nachgereist? Nur um es ihr zu sagen? —
ARTHUR SCHNITZLES
uns her, in dieser Wirklichkeit wußte ich den See liegen Also fort, fort. Ich berühre Agathe an der Schulter, sie
wendet sich nach mir um mit einem Blick voll Liebe. Und
unten im Mittagsglanz, in diese andere war auch Aline
Copyright 1931 by Heinrich Schnitzler
wieder zurückgekehrt, und dort lag auch der Mann, den wieder rast der Zug mit uns davon. Durch das offene
2. Fortsetzung
Fenster blickt irgendwer herein — wie ist das nur möglich?
Ich erwiderte nichts, denn kein Wort wäre das rechte ge¬
ich heute morgens tot am Waldesrand hatte hinsinken sehen
Er klammert sich offenbar draußen an die Fensterbrüstung.
wesen. Allerlei blasse Erlebnisse der letzten Tage leuchteten in
Wirklicher als all das war, was zwischen Agathe und mir
hin und her schwebte, war, nicht was ich sagte, doch der Er hält ein Stück Papier in der Hand: das Telegramm, ge¬
meiner Seele plötzlich auf. Es fiel mir ein, wie sie sich au
Ton ihrer Stimme, war ihr Blick, ihr Wunsch war unser wiß. Ich stürze den Mann hinunter, er kollert hinab, ich
jenem Ausflug neulich in meinen Arm gehängt hatte und
weiß nicht wohin — ich seh' ihn ja auch gar nicht. Welches
mit mir den Waldpfad hinuntergelaufen war, dann er
Glück, daß Agathe nichts bemerkt hat. Natürlich nicht. Sie hat
Verlangen.
innerte ich mich wieder, wie sie mir nachts im Garten mit
Das Mahl war zu Ende. Der Diener kam nicht wieder,
ja ein großes englisches Journal in der Hand... und blättert
ihren schmalen Fingern durch die Haare gefahren war, und
darin, sieht sich die Bilder an. Wie komisch, da ist ein Bild,
jenes Grußwort klang mir zärtlich durch den Sinn: „Kind."
wir waren allein.
Agathe stand vom Tische auf, sie trat auf mich zu, nahm
das den Spielsaal von früher darstellt und sie und mich
Ich hatte all das nicht verstanden, zu verstehen nicht gewagt.
meinen Kopf in beide Hände und küßte mich auf die Lippen.
Es war kein glühender Kuß, er war eher milde, mehr Gülte unter den Spielern. Wie rasch die Nachrichten gehen. Wenn
Denken Sie, wie jung ich war! Es war das erste Mal,
als Leidenschaft war in ihm, er war geschwisterlich und doch ihr Mann dieses Bild zu Gesicht bekommt — was wird mit
daß eine schöne, junge Frau, eine Frau die ich für eine
uns geschehen? Wird er auch mich umbringen, so wie er den
liebende und geliebte Gattin hielt, mir das Geschenk ihres
Herzens zu bieten schien. Wie hätte ich das erwarten dürfen? berauschend, er war Feierlichkeit und Wollust zugleich.
Rittmeister umgebracht hat?
Und später, von ihrem Arm umschlungen, glitt ich in
Und mit einem Mal bin ich wieder in der Villa, in dem
Und wenn sie nun ihrer Freude über mein Kommen so un
Wir lagen auf einen Wiesenhang hingestreckt; es war der Zimmer, auf dem Diwan, wo ich wirklich bin. Es ist wirk¬
verhohlen Ausdruck gab, so bedeutete das nichts anderes, als
tausend Träume
lich und zugleich doch ein Traum. Ich träume, daß ich wach
daß sie mich für ungeduldig und für verliebt genug hielt, um
gleiche, auf dem sie neulich erst an Eduards Seite gelegen
war. Ich wundere mich, daß sie so ruhig ist, ohne jede hin, ich träume, dass meine Augen offen sind und riesengroß
mit voller Ueberlegung die Abwesenheit ihres Gatten zu
zu den flatternden Gardinen starren. Und ich höre Schritte,
diesem unvermuteten und verwegenen Besuch zu benützen.
Angst, irgend etwas Furchtbares ist ja geschehen — ich weit
langsame Schritte von sechs Männern oder zwölf. Ich weiß,
„Es ist serviert, gnädige Frau.“
Eine leichte Bewegung Agathens. Ich wandte mich um. nicht was, denke auch nicht darüber nach, aber ich weiß, daß
wir fort müssen, so weit als möglich. Dann sitzen wir in daß man jetzt die Bahre mit dem Leichnam bringt, und ich
fliehe. Ich bin auf der Terrasse draußen. Ich muß hinab
Wir traten ins Nebenzimmer. Es war Agathens Boudoir,
das Fenster stand offen, weiße Gardinen schlossen uns gegen einem Eisenbahncoupé; das renster ist offen. die Vorhänge,
über die Stufen. Wo sind die Männer, wo ist die Bahre?
draußen ab, Garten und Luft schimmerten mit unbestimmten nicht befestigt, fliegen hin und her, zerrissene Bilder wechseln.
Ich sehe sie nicht. Ich weiß nur, daß sie mir entgegenkommt
der Landschaften rasen vorbei, Wälder, Wiesen, Zäune, Felsen
Kirchen, vereinzelte Bäume, unbegreiflich schnell und ohne und daß es mir unmöglich ist, ihr auszuweichen. Plößlich
stehe ich im Garten ganz allein, aber es ist kein wirk¬
Farben durch
Wir saßen einander gegenüber, Agathe und ich. Der
jeden Zusammenhang. Rasch genug, niemand kann uns nach,
nicht einmal die Leute, die im gleichen Zug fahren; es ist unfa߬ „licher Garten, er ist einer wie aus einer Spielzeugschachtel;
Diener, jetzt in dunkelblauem Lüstersakko mit Goldknöpfen
es ist genau der Garten, den ich vor vielen Jahren einmal
ging aus und ein und servierte. Es war mit erlesenem
bar, aber doch ist es so. Plötzlich höre ich ihren Namen
zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Ich habe bisher
Geschmack gedeckt. Ein einfaches Mahl, und als Getränk nichts
braußen rufen, ich weiß, es ist ein Telegraphenbote, der sie
sucht. In mr ist nur die Angst, daß sie es hören könnte. gar nicht gewußt, das man darin auch spazieren gehen kann.
als Champagner. Unser Tischgespräch war völlig harmlos
Auch kleine Bögel sitzen auf den Bäumen. Die hab' ich da¬
und mußte es sein, dabei aber ganzlich ungezwungen, nicht
Aber der Name klingt immer leiser, endlich verklingt er
ganz, und der Zug rast weiter. Wir reisen, ja, wir reifen, mals nicht bemerkt. Und jetzt fliegen sie alle weg, zur Strafe,
nur von ihrer, sondern auch von meiner Seite. Doch wäh
wir reisen immerfort. Jetzt sind wir in einem Spielsaal weil ich sie bemerkt habe. Und beim Gartentor sieht der
rend wir von den Alltäglichkeiten des Landlebens sprachen
— es wird wohl Monte Carlo sein. Wie kann ich nur Diener und verbeugt sich sehr tief. Denn eben tritt Herr
von abgetanen und geplanten Ausflügen, von der bevor
Loiberger persönlich herein. Er hat keine Ahnung davon,
stehenden sonntäglichen Regatta, der voraussichtlichen Teil¬
zweifeln? Natürlich ist es Monte Carlo. Agathe sitzt am
daß er tot ist und dabei hat er doch einen weißen Regen¬
nahme und den Chancen Loibergers — obwohl ich keinen
Spieltisch mitten unter anderen Leuten, sie ist schön, sic ist
mantel on. Ich muß ihn ins Haus hineinbegleiten, damit
Augenblick vergaß, daß Eduard tot war, und daß ich nur
hergekommen war, um es seiner Gattin zu berichten — ganz ruhig. sie spielt, sie verlieckt, ich schaue nach
de Votre