A220: Über die Physiologie des Schaffens, Seite 2

Nr. 24tes
Wien, Freitag
Neue Freie Presse
25. December 1881
31
A
C. A. P.
Ilmoitetaan
Aufgenommen
T
H
Weihnachtsbeslage der „Neuen Freien Presse“.
lääneissä sekä.
N.P.
ΔΟΟῖ·ου
Das neue Drama.
Werke von Jakob Wassermann und Ferdinand Bruckner.
The Rechte von
Den Bühnen und Bereinen 9-3
der Mann-
ruft; Klirren, wie wenn Gläser auf einer Metallplatte vorbei¬
Verfangen sind
uf Aufführung, Versilmung und Ue¬
Olga Petrowna. Wird per Mahlzeit berechnet
getragen würden, dazu von Filzschuhen gedämpfte Schritte (samt=) Man sperst à la carte. Den Herrschaften wird von einem Auf=
durch S. Fischer Verlag A. G., Berlin, zu erwerben.
liche bedienenden Personen tragen Filzschuhe); entfernter di
Coqyrigi 1831 by S. Fischer Verlag A. G., Berlin. Printel in Germann
wärter in Livree serviert, dem man die Nota bezahlt. Er bleibt
Töne eines mechanischen Klaviers sowie eine Frauenstimme, die
den Herrschaften zu besonderen Dienstleistungen zugewiesen.
einen banalen Gassenhauer plärrt. Nach einer halben bis einer
Anastasia Karlowna (merklich angewidert, was
Lukardis.
Minute wird der Schlüssel im Schloß gedreht, durch die geöffnet
sie nach Kräften verbirgt). So wäre das in Ordnung
Tür fällt Licht vom Kokridor herein, Olga Petrowna, die
Schauspiel in drei Akten
Olga Petrowna. Für welche Zeit ist das Apparte¬
zuerst eintritt, dreht den elektrischen Mittelluster auf. Sie ist
eine verblühte Dame zwischen Vierzig und Fünfzig mit großartigen | ment instand zu setzen
Von Jakob Wassermann.
Allüren und affektierter Sprechweise. Hinter ihr Anastasi
Anastasia Karlowna. Jetzt. Gleich. Es ist
Karlowna, über Fünfzig, graue Haare, bescheidene Kleidung, acht... In einer halben Stunde sind sie da. Man wartet nur
Personen:
kluges Gesicht. Die Situation, in der sie sich befindet, flößt ihr
auf meine Verständigung. (Wendet sich zum Gehen.
Peter Iljitsch Kussin, Staatsrat und Senator
sichtlich das größte Unbehagen ein
Olga Petrowna. Einen Augenblick noch, wenn
Lukardis Stephanowna Schmoll, Tochter des Bize-
Sie die Güte haben wollen..
admirals Schmoll.
Anastasia Karlowna (ärgerlich). Was ist ge¬
Olga Petrowna. Dieses Appartement wäre als
Anastasia Karlowna Martow.
eines der besten zu empfehlen. Es entspricht allen Wünschen
Krasnuka.
Olga Petrowna. Sie verzeihen, aber ich habe in
Es ist alles ruhig und vornehm.
Wera Fedorowna, seine Frau
meiner Praxis selten mit einer Quartiermacherin zu tun
Anastasia Karlowna. Es wird das richtige sein
gehabt
Gljeb.
Olga Petrowna. Ich habe es erst im Herbst frisch
Anastasia Karlowna (über die Achsel). Es sind
Olminsky
herrichten lassen.
besondere Umstände..
Olga Petrowna Uglassewa.
Anastasia Karlowna. Rein
Olga Petrowna. Ungewöhnlich. Das Un¬
Iwan Matweijitsch, Kommissar.
Olga Petrowna. Garantiert. Ungeziefer finde
gewöhnliche gibt zu denken
man bei mir nicht, wenn Sie das meinen
Igor, Aufwärter.
Anastasia Karlowna. Bin ich Erklärungen
Anastasia Karlowna. Der Preis
Dimka, Magd.
schuldig?
Olga Petrowna. Dreißig Rubel per Nacht. Be
Ein Diener bei Kussin.
Olga Petrowna (argwöhnisch). Ich bin der
vierundzwanzigstündiger Benutzung fünfzig Rubel. Von sech=
Wassilji, Diener bei Krasnuchs
Polizei gegenüber verantwortlich. Täglich kommt ein Be¬
bis sechs. Die angebrochene Mehrstunde fünf Rubel
Erste, zweite, dritte Männerstimme, Frauenstimme bei der Spiel
amter zur Inspektion. Wenn ich politisch Verfolgten Asy
Anastasia Karlowna. Für zwei volle Tage also
partie.
gewähre und es wird entdeckt, sperrt man mir den Betrieb.
hundert Rubel
Anastasia Karlowna (sarkastisch, aber unvor-
Stimmen im Hause
Olga Petrowna. Ganz recht. Vorauszahlbar
sichtig). Sollten Sie versäumt haben, auch dafür einen Preis
Zwei Prostituierte.
Anastasia Karlowna. Ich werde es vor dem anzusetzen? Oder sind Sie der einzige Mensch in Rußland
Zeit: 1905. Ort: Moskau.
Weggehen regeln.
der einen Beamten nicht zu bestechen versteht? (Erschrickt
Olga Petrowna. Ich bin Ihnen verbunden
über sich selbst, beißt sich auf die Lippen.
Erster Akt.
Anastasia Karlo die Verpflegung:
Geräumiges Zimmer im Maison de rendez-vous der Olga Petrowna
Olga Petrowna. Ich scheine keine Patriotin vor
Uglassew. Die Ausstattung hat den Schein von Zweideutigkeit
mir zu haben.
und verlogener Eleganz, der solchen Häusern eigen ist. Stühle
Anastasia Karlowna (lenkt erschrocken ein).
und Sofa mit verschossener rosa Seide überzogen. Mitteltisch. Die
Sie haben in dieser Beziehung nicht das mindeste zu fürchten.
Wände sind zum Teil mit Spiegeln verkleidet. Im Hintergrund
Olga Petrowna. Ihr Wort sollte mir genügen.
Fehlten sie am Welhnachtstisch
Flügeltür in den Flur. In der Ecke rechts ein Alkoven hinein¬
Leider haben Sie mich ängstlich gemacht
gebaut, vor dem eine Plüschportiere hängt. Im Alkoven das
dann schenken Sie sich selbst
Anastasia Karlowna (will den begangenen
französische Doppelbett. links eine ebenfalls mit Spiegeln ver¬
Fehler wieder gutmachen). Ich will offen gegen Sie sein...
kleidete und stark in die Augen fallende Zwischentsir. Rechts zwei
L. B. O. Strümpfe
Olga Petrowna (ziert sich). Ich möchte nicht In-
hohe Fenster.
diskretionen herausfordern...
Anastasia Karlowna (mit Ueberwindung)
Beim Aufgehen des Vorhanges ist die Bühne dunkel. Die Vor¬
Ich empfehle nur ein unglückliches Paar Ihrem Schutz
hänge über den Fenstern sind nicht zugezogen, infolgedessen fällt
Olga Petrowna. Wer unter meinem Dach weilt
von der Straße Laternenlicht an die Decke. Bis zu dem Moment
genießt alle Vorrechte der Gastfreundschaft
wo Anastasia Karlowna und Olga Petrowna
Anastasia Karlowna (stachlig). Wer zweifelt
Uglassew von hinten austreten, vernimmt man folgende Ge¬
daran? Aber Sie dürften doch nicht kiskieren, es ihnen
räusche: Rattern von Fahrzeugen auf dem Straßenpflaster; den
Leopold Feldstein
selbst zu sagen.
Ruf eines Zeitungsverkäufers; das Schließen von Rolladen; aus
IX Währingerstrasse 6
Olga Petrowna. Ich weiß, was ich einer
dem Hause selbst: zwei oder drei scharfe elektrische Signale; ein
Situation schuldig bin.
Männerstimme, die mehrmals zornig und ungeduldig „Igor“
manche Liebschaft nach. Eine Weile aber sprach ganz Wien
zu fürchten, die dem einzelnen Schriftsteller Schaden tun
copyright by Felix Salten, Wien.
konnten. Aber sie hatten Mittel mehr als genug, um jeden
Ule Rechte ausnahmslos vorbehalten.
offen von ihrem Verhältnis zu Mattachich. Der war Offizier in
einem adeligen Kavallerieregiment, war durch die zweite Eh
Zugang zu Beweisen zu verrammeln, hatten Mittel genug
um Beweise, die man etwa trotzdem erbrachte, bis zur
seiner Mutter Adoptivsohn eines Grafen Keglevich geworden
Auf Tod und Leben.
völligen Unwirksamkeit zu entfärben. Sie hatten „Recht
und führte das vergnügte Dasein eines aristokratischen
Oberleutrants. Eines Morgens wurden die zwei, Louise und
gesprochen und sie würden sicherlich alles daran setzen, recht
Die Liebesgeschichte der Louise von Koburg
Mattachich, in einem Provinzhotel ausgehoben. Prin
zu behalten.
Philipp Koburg ließ seine Gattin kurzweg ins Irrenhaus
Der Mann redete indessen weiter, immer aufgeregter,
Von Felix Salten.
stecken. Mattachich stellte man vor ein Militärgericht, das
immer heftiger. Während ich ihm mit halbem Ohr zuhöre,
ihn wegen Wechselfälschung für schuldig erklärte und auf
ging mein Ueberlegen weiter. Wenn Mattachich nun doch
Einmal empfing ich den Besuch eines Mannes, der mit
sechs Jahre ins Zuchthaus sperrte
unschuldig, wenn diese ganze Zuchthausstrafe nichts anderes
ziemlich aufgeregter Stimme behauptete: „Dieser Mattachich
Die Anekdote, die damals erzählt wurde, fiel mir ein
als eine schnöde Machenschaft war? Die Hofgesellschaft und die
ist unschuldig!“ Er war eigens zu dem Zweck gekommen
Prinzessin Louise hatte teilnahmsvoll gefragt: „Hat er dort
Generale um den Prinzen von Koburg brauchten sich ja nicht
mir das zu sagen. Er war kein junger Mensch, sondern ein
wenigstens einen Teunisplatz?“ So stellte sich um jene Zeit im mindesten geniert zu fühlen, wollten sie Seiner königlichen
Mann anfangs der Fünfzig, sehr elegant, mit den Allüren
Hoheit einen Tienst erweisen. Der kleine Kavallerieober-
eine königliche Prinzessin das Leben im Zuchthaus vor.
eines hohen Offiziers und er gehörte seinem Namen nach
leutnant war eigentlich in ihren Augen gar kein Gegner.
zur Klasse des Feudaladels. Man wird mir ohne weitere
Inzwischen war Mattachich nach vier Zuchthausjahrer
Sein Adoptivvater hatte ihn auf einen Wink von oben ver¬
glauben, daß ich zu diesen Kreisen sehr wenig Beziehung hatte
begnadigt worden. Seit etwa zwei Jahren befand er sich
stoßen, hatte ihm die Führung des gräflichen Namens
Uebrigens kamen und kommen auch heute immer
in Freiheit. Die Zeitungen, die von seiner Enthaftung
Notiz nahmen, berichteten, daß er sich in äußerster Keglevich untersagt. Was übrigblieb, war ein winziger kroati¬
wieder Leute aus den unterschiedlichsten Klassen und Schichten
scher Gentryman und ein Subalternoffizier. Etwas Ohn¬
zu mir. Die einen haben Projekte, für die sie Propaganda
Kärglichkeit fortbringe, und schwiegen alsbald gänzlich
mächtiges Das vernichteten sie, wie man eine Fliege an der
Nun saß ein mir fremder Mann in meinem Zimmer
wünschen, die anderen sind in bedrängter Lage und wollen,
Wand klatscht. Hatten sie den armen Teufel in der Ta¬
daß man ihnen gegen mächtige Feinde helfen solle. Die beteuerte die Unschuld Mattachichs, verlangte, daß ich
derart erledigt, dann gebot die einfache Menschenpflicht, dem
für seine Rehabilitierung eintrete und nicht eher nach¬
meisten haben ganz einfach Manuskripte.
Mißhandelten beizustehen, dann wurde der Kampf gegen
Mattachich — die Erinnerung wachte auf, von dem
gebe, bis dieses Ziel erreicht sein werde. Ich befand mich
in einer ernsten, keineswegs angenehmen Lage. Gesetzt den Hof und gegen die Hofgenerale eine zwar schwere Auf¬
Besucher unterstützt und immer stärker wachgerüttelt
gäbe, aber doch eine Aufgabe, der man sich keinesfalls ent¬
den Fall, Mattachich sei wirklich unschuldig gewesen und
Mattachich, das war der Geliebte der Prinzessin Louise
ziehen konnte.
habe die vier Jahre Kerker tatsächlich nur als das wehrlose
von Koburg. Einst, vor längerer Zeit. Wir schrieben damals
Die Antwort, die der aufgeregte Mann schließlich von
den September 1903. Und diese Skandalaffäre hatte sich
Opfer eines gekränkten Hahnrei erduldet: ein schlagender
mir bekam, lautete dahin: „Beweise, dokumentarische Be¬
Jahre vorher ereignet. Prinzessin Louise war die Tochter des
Beweis dieser Unschuld ließ sich jetzt nur sehr schwer bei
weise gibt es keine, nicht wahr? Entscheidend ist, daß man
Königs Leopold von Belgien und die Schwester der Kron¬
bringen. Allerdings blieb die Möglichkeit, daß Mattachich
in seinem Gefühl die Ueberzeugung erlangt, hier sei ein Un¬
unschuldig war, nichts weniger als ausgeschlossen, doch für
prinzessin Stephanie. Die jungen Leute von damals hegten
schuldiger wissentlich geopfert worden. Also muß ich Mattachich
ebenso wahrscheinlich durfte man die Schuld des Abgestraften
noch eine Art von schwärmerischem Gedächtnis an diese
persönlich sprechen.
ansehen. Und was dann? Konnte ein Schriftsteller das
wunderschöne Frau. Sie hatte mit ihrer hohen, ein wenig
„Wann darf er kommen?"
Wagnis unternehmen, einem Menschen beizuspringen, der
zur Fülle neigenden Gestalt, mit dem üppigen, goldblonden
„Zu jeder Stunde.“
Wechsel gefälscht hatte, ihn als Unschuldigen zu verteidigen
Haar, das wie eine leuchtende Krone schwer auf ihrem Haup
Etwa zwei oder drei Wochen verstrichen, ohne daß von
um dann selbst beschämt und verspottet dazustehen? Man
lastete, hatte mit ihrem langen, schmalen Antlitz, darin der
der Sache das Geringste zu hören war. Beinahe hatte ich
hatte die ganze große Macht des Militärgerichtes, hatte die
schöne Mund Lebensfreude lächelte und die Augen Leiden¬
ungeheure Mocht des kaiserlichen Hoses gegen sich, zwei ihrer schon vergessen, als Mattachich plötzlich erschien. Aller¬
schaft sprühten, etwas Verführerisches. In ihr schien die Trieb=
dings, er kam zu einer sehr ungewöhnlichen Stunde. Um
Gewalten, die das bürgerliche Leben bis in seine weitesten
haftigkeit flämischer Rubens=Weiber zu blühen und sie war
reipoller als Helene Fourment. Man sagt ihr tabsächlich Verzweigungen beharrkten. Rieb als Belägten wann sie Rittermeister