Donnerstag, 29. April 1880

29/4 Donnerstag Mg.― Ich erwartete heute und Montag die geliebte vergebens. Am Ende wieder der verdammte Zahn?!―

― Man sagt allgemein, wir leben im 19. Jahrhundert. Das ist ein Umstand, über den ich mich wirklich letzthin vergewissern wollte, als ich in einer hiesigen Zeitung die Notiz las: das Kloster Montserrat in Spanien begehe sein so und so viel jähriges Jubiläum; um die Kosten für das Fest zu decken und zur Feier des Tags lasse der Bischof fünfzigtausend Ablaßzettel à 10 Kreuzer verschleißen. Verdient dieser Schuft von einem Bischof (ich glaube nicht daß er ein Trottel ist) nicht eingesperrt zu werden? Das ist die moralische Mission des Katholicismus? Das ist die Meinung des Märtyrertods des sog. Heilands oder oft richtiger Unheilands?

… Jawohl, die Ungebildeten werden immer und ewig eine Religion brauchen

― und die unglücklichen Ungebildeten noch dringender als die andern Ignoranten, denen es gut geht. Doch die Religion hat eben die Aufgabe, die Gläubigen alias Leichtgläubigen zu trösten; nicht aber sie zu verdummen und geradezu zu entsittlichen. Die Leute brauchen einerseits etwas, worauf sie hoffen können, andererseits etwas, wovor sie sich fürchten; und die Zeit wird niemals kommen, wo alle Köpfe reif sind, die Stimme der Wissenschaft zu vernehmen. Aber müssen sich die Sterblichen, die sich nun einmal aus Gründen subj. oder obj. Art (d. h. aus Unfähigkeit oder ungeeigneten Verhältnissen) der Wahrheit nicht nähern können, von derselben entfernen?

Die letzten Fragen, welche nie beantwortet werden können, sind folgender Art: Die Naturwissenschaft frägt: Wie entstand die Zelle? und die Geschichte: Wie kam Bewegung in die Zelle? ―

Ich habe mich von den Ablasszetteln entfernt, gedenke auch fern zu bleiben, und will nur beiläufig fragen, wie viel Antheil wohl der Egoismus an der simplicitas communis hat? Das führt mich auf die Construirung einer Art philosoph. Winkelsystems. Egoismus und Mitleid arbeiten sich entgegen. Entweder wir nehmen an, daß Egoismus das leitende Weltprincip wird (es ist ja der Fehler der Idealphilosophie, daß sie meist alle Individuen als geistig und körperlich gleich organisirt annehmen muss). So sorgt jeder für sich und ist gedrungen, den andern zu schaden (Kampf ums Dasein). Bedenken wirs recht, so ist das leitende Weltprincip wirklich dieser Egoismus. Nun wollen wir aber besser werden und führen ein, daß Mitleid die Welt regiere. Keiner sorgt mehr für sich, sondern jeder für die andern. Ich muss lächeln, während ich diesen Satz niederschreibe. Ich kann allerdings mitleidig sein und egoistisch zugleich (wobei zugleich bemerkt sein mag, daß sich der Egoismus in quant. Fortschreiten aus dem Vitalbewußtsein entwickelt) ― muss es sogar sein, wenn ich nicht ein Schurke sein will. Aber wenn man eingesehen hat, daß der Egoismus, d. h. das Mitleid für die eigene Person sehr oft resultatlos bleibt, d. h. persönliches Glück nicht im Gefolge hat, so wird daraus klar, daß gar das Mitleiden für andre in den meisten Fällen erfolglos bleiben muss; d. h. man möchte gern helfen, kann aber nicht. Aus all dem leite ich die Schlussfolgerung ab ― zum Teufel welche? Ich weiss wie gewöhnlich keine.― Nütze andern! Gut, der eine kann’s materiell, der andre geistig. Aber nützen heißt noch nicht glücklich machen; und meine ganze philos. Zahnstocherei heißt ja eigentlich Problem des Glücks. Was versuch ich also noch weiter? Ich bin schon mehr als einmal auf ganz logischem Wege zur Ansicht gekommen: daß ganz besonders Dummköpfe Talent zum Glück hätten, von welchem Standpunkte ich eigentlich auch die Ablaßzettlerei gutheißen sollte. Dem widersetzt sich aber jenes Etwas in meinen Gehirnzellen, dessen nähere Consistenz man vielleicht in ein paar Jahrzehnten dank der vergleichenden Anatomie und dem Mikroskop gefunden haben wird.― Aber wir werden selbst nach dieser Entdeckung, wenn sie je gemacht wird (was durchaus nicht unwahrscheinlich ist), [!] denn wir werden dann zwar wissen, warum bei dem und dem Individuum sich Zweifel regen, ohne deswegen noch diese Zweifel lösen zu können.

1880-04-29