II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 197

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14. Der Schleier der Reatrice

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Aus dem Breslauer Kunstleben.
Wnsere winterlichen Theater wurden mit dem wundervoll großen und unsäglich weh¬
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mütigen „Baumeister Solneß“ eröffnet, mit der Tragödie des großen Schaffenden,
der seine eigenen Schöpfungen nicht mehr umspannen, seine eigenen Türme nicht mehr
ersteigen kann. Welches schamvoll peinigende Gefühl, dem alten, resignierenden Recken,
den wir mit all unserer scheuen Ehrfurcht lieben, hinter die boshafte Maske sehen zu
dürfen, die ihm sonst voll weiser und grimmiger Scham die höhnische Selbstentgötterung
um das nackte, geheimste Gesicht hieng, wie in der „Komödie der Liebe“, in der „Wild¬
ente“. Der Solneß, das ist noch eine der großen Tragödien, die dunkel und erschütternd
an das Herz rühren, die Seele erschauern lassen . . . Und heute mehr als je, nachdem
wir den gewaltigen und trauervollen Epilog kennen, der hinter ein langes, in seiner
furchtbaren Größe unvergleichliches Leben noch das bittere „Wozu?“ gesetzt hat, — heute
überblicken wir dieses große Werk, dringen wir in diese unergründlichen Seelentiefen,
aus denen so unendlich viele Inhalte emporgetaucht sind. Die größte und erschütterndste
Bängnis aber bringt der Solneß, der so gewaltig die Welt umspannt; der Überragende,
der hinabgezogen wird von diesem ehernen, nivellierenden Leben. Welche Welt hat der
große Schöpfer uns damit heraufgebannt, und welche kochenden Vulkane zugleich vor
uns verschlossen! Das ist das Einzigartige an diesem Drama, daß es so unendlich viel
wehmütig verrät und so unendlich viel herrisch verbirgt.
Wenn unsere winterlichen Bühnen auf eigene Faust ihrem dramaturgischen Ehr¬
geiz nachgehen, so hat das noch jedesmal betrübende Folgen gehabt. Ich erinnere an
die unverzeihliche Langeweile der Carl Hauptmann'schen „Ephraims Breite“, einer
Dilettantenarbeit, die sich von hier aus noch immer nicht die Welt erobert hat. In
dieser Spielzeit hieng unser Ehrgeiz erklecklich höher. Herrn Arthur Schnitzler's
neueste Bühnenarbeit „Der Schleier der Beatrice“ schien, obwohl der Autor zu den
ausgesprochensten Lieblingen des Theatermobs zählt, für die cheaterleiter nicht vorhanden
zu sein. Wir machten uns mit einer gewissen Prätention daran, diese Tragödie aus der
Taufe zu heben, dem verhätschelten Dichter „zu seinem Rechte zu verhelfen“.
Mit besonderer Sympathie habe ich Herrn Dr. Schnitzler nie gegenüber gestanden.
Er hat den „Anatol“ geschrieben. Nun, die Gyp hat in einem einzigen ihrer zahllosen
kleinen Bücher millionenfach schärfere Psychologie, Tiefe des Erlebens, gezeigt, als
Schnitzler bis zu seinem Lebensende jemals ahnen lassen kann. Vollends gegen diese
berückende Grazie, gegen diesen sprühenden Geist der Französin erscheint mir der Wiener
grob, stümpernd, armselig. In seinem Drama „Liebelei“ und im „Vermächtnis“ endlich
hat sich Schnitzler als der berufene Dramatiker der Bourgeoisie par excellence doku¬
mentiert. Vor Jahren, als alle Zeitungen ihn zu lobpreisen begannen, habe ich staunend
gefragt: Ja, lebt denn irgend ein Mensch von überdurchschnittlichen Maßen oder nur von