II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 276

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14. Der Schleier der-beatrice
den. Jetzt wäre es bloßer Eigensinn, sie auf mußten unberücksichtigt bleiben; nur eine Roentgen= auf offenem Markte, ein paar Dutzend Verse lang.
Todesweg mitzunehmen. Und er leert den Aufnahme des Stückes konnte und sollte hier geboten Teresina darf nach der Scenenvorschrift durch keine
er, in den eine Genossin seines Mahles von heut werden. Aber schon Schiller fand, daß vom „Knochen= Miene verrathen, daß sie die Apostrophe des Bruders
gebäude“ ebenso wie in der menschlichen Structur versteht. Im Buche wirkt dieser Dialog, der keiner
d einen tödtlichen Trank gegossen, den sie mit
ist, ermüdend; im Ernstfall, auf dem Theater, wo
auch in der dramatischen Alles abhängt. Bei einer
theilen wollte, wenn er mit ihr die Nacht theilt.
Prüfung aus der dramatischen Anatomie zeigt Alles ungehörig ist, was nicht zur Sache gehört, muß
trice entreißt ihm das Glas: sie „will's ja thun“
er langweilige Störung erzeugen. Flüchtig klingt hier
Schnitzlers Schauspiel Mängel, die das Bühnenlicht
mit ihm. Er aber schlägt es ihr verächtlich aus
ein Motiv an, das Shakespeare im „Titus Andronicus“
ohne Zweifel noch greller herausarbeiten muß. Das
Hand: „Betrüg' Dich nicht! Entflieh'! das Leben
verwendet. Aber Shakespeare braucht die Stummheit
Stück erzählt die tristi amori eines Dichters und
et!“ Er finkt auf den Stufen, die zum Schlaf¬
der Lavinia wirklich als Motiv: sie bewegt die
seines süßen Mädels. Alles ist auf die poetisch wahre
führen, zusammen. Beatrice stürzt fort,
Handlung und die Hörer. Solche dramatische
Auseinandersetzung dieser Beziehungen gestellt, und die
Eend wie von Sinnen: „Leben! Leben!“
Elementarweisheit ist von Shakespeare zu lernen.
beiden großen Duette Filippo=Beatrice liegen im
Herzogsschlosse wird inzwischen, spät genug,
Statt dessen imitirt man heute die Shakespeare¬
Brennpunkte der dramatischen Parabel. Und gerade in
Abwesenheit bemerkt. Unter den Bäumen seines
Uebersetzung. Schnitzlers Herzog ist „höchst geneigt“
diesen entscheidenden Momenten — entscheidend für
ens, der vom Lustgetöse widerhallt, geht Lionardo
spricht von einem „höchst verruchten Ort" und von
das Geschick des Stückes wie seiner Personen — tritt
ivoglio einsam auf und ab, was er wohl nicht
„diesem sehr geliebten Dichter“ Man hört wirklich
an die Stelle dichterischer Wahrheit eine spielerische,
wie einer seiner Kammerherren scharssinnig
beinahe
— August Wilhelm Schlegel.
frostige Dialektik. Man hört so oft von poetischer
Erkt — wenn seine Sehnsucht nach Beatrice so
Im Uebrigen behandelt Schnitzler die Sprache mit
wäre. Der Herzog hat sich vor seinen ehelichen Gerechtigkeit reden: Schnitzlers Stück beruht geradezu
nicht gewöhnlicher Sorgfalt und klugem Verständniß
auf poetischer Ungerechtigkeit. Filippo Loschi verstößt
en seiner stadtväterlichen Pflichten erinnert, hält
für ihre Wirkungen. Nach der scandirten Prosa des
Beatrice, weil sie „die Dirne ihres Traums“ gemorden.
srath, entdeckt ein Complot seines Statthalters,
„Paracelsus“ läßt der „Schleier“ eine ansehnliche
eit einen Anschlag des Borgia und hat, da ihn Die Frage bleibe aus dem Spiele, ob der Renaissance¬
Steigerung des Formvermögens erkennen. Von Klang¬
Höfling vor der Herzogin warnt, die selbstgewisse Typus wirklich so überempfindsame Züge verträgt,
mißbräuchen und sprachlichen Instrumentations=Effecten,
ob da nicht am Ende der Literatur=Neurastheniker
ort: Ihr hegt mehr Treu' als Klugheit. Bald
wie sie von ein paar Gymnasiasten der Literatur in
von heute sich Costüme und Geberde jener Kraftzeit
er inne, daß sein Höfling mehr klug ist als
die Mode gebracht wurden, bleibt Schnitzler durch sein
Herzogin treu. Er sucht und untersucht, wittert anmaßt. Genannter Filippo Loschi selbst ist aber sonst
Talent und seine künstlerische Aufrichtigkeit bewahrt.
recht derber Innenconstitution und gar nicht so delicat.
neue Unthat Cäsars, nimmt Eltern und Schwester
Ihm ist der Vers nicht die „süße Gewohnheit der
Er verläßt nach eigenem Geständniß seine Braut, weil
Permißten ins Verhör, jagt seine garden party
gebundenen Rede“ sondern der sachnothwendige Aus¬
sie ein Ansinnen zurückweist, welches an Realität
ander, legt jenem verrätherischen Statthalter den
druck des dramatischen Thatbestandes. Man muß nur
über die Möglichkeit eines Traumes und ein Abenteuer
vor die Füße — das alles schafft ihm Beatrice
bedauern, daß die Gestaltung der Form nicht mit
der Seele erheblich hinausgeht. „Im Zorn versagter
Und sie muß er haben; alles Andere, Bologna,
jener des Stoffes gleichen Schritt hält. Schnitzler
Lust“ bricht er einem edlen Weibe die Treue, und
rohende Schlacht, Cäsar Borgia ist ihm gleich¬
leidet an Arhythmie des dichterischen Pulses; die¬
von dem Geschöpse, das ihm vor der Stadt, bei Spiel
worden in seiner unsäglichen Verwirrung.
ser setzt völlig aus, wo man seine stärksten Leistungen
und Tanz in den Weg läuft, fordert er Treue bis in
ganzes Leben preßt sich zusammen in die eine
erwartet. So in der Orgie des vierten Auf¬
den Traum. Beatrice hält sie ihm bis in den Tod.
: Wo ist Beatrice?
zuges. Die Glut, in der die Scene gedacht ist, wird
Sie will mit ihrem Dichter sterben, weil ihre ganze
dlich! da ist sie. Sie sucht zuerst sich durch¬
mit ein paar dünnen Tupfen von der Makart=Palette
Seele nach ihm ringt. Mit dem Schleier, der zur
herauszulügen. Da sieht der Herzog, daß der
bestritten, und die Regievorschrift: Alles wirkt wie
er fehlt. Neue Ausflüchte. Die Lebensfrage: wo Erde gleitet, ist alle Noth und aller Irrthum
Schattenbilder, scheint schließlich auf die Dichtung
keatrice? wird verdrängt durch die andere: wo der Erde von ihr genommen. Sie will nur noch ein¬
selbst gemünzt.
r Schleier? Der Herzog will ihn mit ihr holen, mal vereint mit dem Geliebten, Mund an Mund
In Schnitzlers Geistesart steht dem Mangel an
und Herz an Herzen, den jungen Morgen schauen,
Sie ihn verlor. Und da sie sich dieses Ganges
Ursprünglichkeit ein außerordentlich entwickelter Sinn
und im ersten Aufglühen des Tages „soll's gethan
ernd weigert, erklärt Lionardo sie des herzog¬
für die psychologische Enpirie entgegen oder vielleicht
sein“. Und was bietet Filippo für die Innigkeit dieses
Rangs verlustig und überliefert sie dem Ge¬
zur Seite. Alles, was Beobachtung voraussetzt, bohren¬
Frühlingsopfers? Eine Kosiyrobe des Todes. Das ist nicht
und Urtheil seines Hofes. Der Spruch lautet:
des Sicheinfühlen in seelische Zustände und ihre Gleich¬
bloß unsittlich — die Anklage träfe nur den Helden
durch's Schwert. Zum zweitenmal in dieser Nacht,
gewichtstörungen, gelingt ihm vortrefflich. So möchte
das ist auch unwahr, und dieser Vorwurf trifft den
Der Herzog selbst grauenvoll nennt, durchlebt
es zu erklären sein, daß und warum Schnitzler als¬
Dichter An Schnitzlers Beispiel läßt sich zeigen, daß die
ice das Entsetzen der Sterbestunde. Sie klammert
literarischer Typus Respect einflößt ohne Begeisierung.
wahre, die künstlerische Wahrheit nicht mit dem Me߬
ns Leben: sie will den Schleier bringen, wenn
Er ist ein Mittelbarer. Innerhalb dieser Grenze seiner
opparate des Raisonnements zu erfassen ist und mit
erzog mit ihr geht und schwört, dann nach
Begabung bietet er eine Fülle von Anregung. So ist
zu fragen. So kommen sie in Filippo's Haus. der Gescheitheit des Alltags nichts zu schaffen haben
seine Beatrice als Charakterstudie eine erstelassige
will. Schnitzler ist ein constructives Talent; seine
ice nimmt den Schleier auf und will gehen. Aber
Leistung. Sie verblüfft immer aufs neue durch den
Probleme sind die eines mathematischen Kopfes, aber
erzog hat nur geschworen, keine Frage zu thun, nicht
Reichthum des Beobachtungs=Materials, durch das reiz¬
gerade in ihrer scheinbaren Exactheit, ihrer posirten
den Ort gleich wieder zu verlassen. Er will hier
voll bewegte Detail und durch eine Kenntniß der
Selbstverständlichkeit durchaus unkünstlerisch. Da ist
Tag erwarten. In Beatrice wächst die Angst.
Frauennatur, wie sie in gleicher Feinheit und Tiefe
Alles zurechtgedacht, arrangirt, das Leben nicht durch
Bitten den Gemahl nicht überreden, versucht
heute nur noch bei Marcel Prévost zu finden ist.
ein Temperament geschaut, sondern durch ein Ver¬
mit schmeichelnder Verführung: daheim er¬
Beatrice Nardi stammt — und das ist kein schlechter
n ihn ihre Küsse. Aber der Herzog hat anders standesprisma zerlegt. Filteranlage statt Sturzgewässers.
Pedigree — von Rahel ab, der schönen Jüdin von
ssen: seine „wunderbare Hochzeil“ soll hier Schnitzler componirt dramatische Schachaufgaben, aber
Toledo. Gleich ihr ist sie eine Thörin, die sich zehnmal
Schachbretter sind es nicht, die die Welt bedeuten.
wo Beatrice den Schleier ließ. Er hebt den
in jedem Athemzuge widerspricht, gleich ihr ein ver¬
Daß dieser Calcul nicht eben immer Wahrscheinlichkeits¬
ng des Alkoven und erblickt Filippo's regungs¬
wöhnt, verwildert Mädchen, gleich ihr ein Traum nur
Rechnung ist, erweist sich an einem Angelpunkte der
Korper. An ihm, dem Schänder seiner Ehre,
einer Nacht. Auch von ihr gilt das Wort, daß sie alle
Handlung. Soll das Stück überhaupt Fortgang und
rschlafend oder berauscht wähnt, rast er seine
Fehler dieser weiten Erde in sich vereint, und dann
Lösung finden, so muß Beatrice von ihrem Gemahl
aus in fürchterlicher Beschimpfung, bis er
jenes andere, das König Alphons der todten Geliebten,
zu ihrem Geliebten gehen. Es ist nicht anzunehmen,
St, daß ein Todter vor ihm liegt. Er wendet
nicht einer geliebten Todten — nachruft:
daß Ersterer seine Zeit und seine Rechte so lässig
Beatrice: „Du hast's gewußt?“ Sie hat's
„Sie war die Wahrheit, ob verzerrt,
nützt, um Ausflüge seiner Gattin möglich zu machen,
All, was sie that, ging aus aus ihrem Selbst,
die es bisher nur dem Namen nach ist. Man denke,
„Warum noch diese letzte Schmach, den Toten
Urplötzlich, unverhofft und ohne Beispiel.“
was der Herzog von Bologna sich's kosten ließ, in
Mich schmäh'n zu lassen?“
So deutet auch Filippo das Wesen Beatricens:
Beatrice.
den Besitz des Weibes zu gelangen, das ihn ent¬
„Ja, dies war die letzte.“
zückt wie kein Weib zuvor. Er ahnt, daß diese daß mit jedem Pulsschlag durch ihre Abern andere
Wahrheit rinnt. Rahel wird einmal ein „albern
m Herzog sind zwei seiner Vertrauten gefolgt;
Nacht die letzte ist, die Borgia ihm läßt, und viel¬
spielend, thörichtweises Kind“ genannt. Und der Herzog
leicht hat eben diese Ahnung ihn vermocht, eine
hnen kommt die Familie Nardi. Francesco und
Sinnenlaune um so hohen Preis zu befriedigen. Lionardo sagt zu Beatrice und von ihr:
atoben wider die Schwester, freilich aus ver¬