II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 426

14. Der Schleier der Beatrice box 20/4
Dramatische Profile.
Um solches mitzufühlen, muß ein Dichter uns aber tiefer blicken lassen;
wir müssen die Kristallisierungen der Gefühle sehen; Björnson gelingt das nicht.
(Er schiebt die Figuren nur hin und her, und es hat etwas Erkältendes, wenn
sie mit hölzernem Munde von den Stürmen ihres Inneren sprechen. Björnson
schiebt sie hin und her, bis es an der Zeit ist, das zu tun, was ihm hier Haupt¬
sache war, das Opfer, die Resignation zu vollziehen. Die Pflegemutter ver¬
schwindet, sie stiehlt sich aus dieser Gemeinschaft, damit Jugend wieder zu Jugend
sich finde. Wie Björnson aber unsicher in der Verdichtung der Liebesverwicklung
ist, so erfüllt er auch die Stimmung jener Opfertat nicht voll. Im Gegenteil,
er schwächt und verschleiert sie, ohne daß er es will. Er läßt die entsagende
Lionarda in ihrem Abschiedsbrief schreiben: „Wenn Du diesen Brief erhältst,
bin ich fortgereist. Ich liebe den, den Du —“ Björnson, der doch in Lionarda
das Höchste edel=altruistischer Selbstüberwindung feiern will, merkt offenbar gar
nicht, wie er durch diese Proklamation dem Verzicht seine Schönheit und Kraft
nimmt. Ein wahres Opfer muß doch lautlos geschehen, ohne die Betonung und
Kommentierung, daß es ein Opfer ist, sonst wird es für die, denen es gebracht
wird, — vorausgesetzt, daß es feinfühlige Menschen sind, und das sollen diese
hier sein — statt segensreich, unheilvoll und vorwurfsschwer. Ich mußte an das
Liebesopfer in Maeterlincks „Aglaveine und Selysette“ denken. Ein junges
Weib geht in den Tod, um zwei Liebenden nicht im Wege zu sein. Aber sie
weiß, daß diese Tat wenig fruchten würde, wenn die beiden wüßten, warum sie
geschehen. Und da ist es ergreifend, wie die arme Seele in ihren letzten Augen¬
blicken nur den einen krampfhaften Willen hat, die andern zu überzeugen, daß
sie durch unglücklichen Zufall die Todeswunde empfangen.
Solch feine Wage für die Gefühle hat Björnson nicht.
Arthur Schnitzler, der Wiener Dichter, aber weiß mit ihr umzugehen.
Zur Überschärfe steigert er nur oft sein Instrument. Ja, er wägt nicht nur, er
analysiert und destilliert; er treibt wie Stendhal, der nach allen Rätseln mensch¬
licher Widersprüche heißhungrig, wißbegierig suchte, und sein übervolles Herz mit
einem messerscharfen, kalt prüfenden Verstande argwöhnisch, mißtranisch belauerte,
eine Chemie der Gefühle. Seltsame Mischung schwebender, lyrischer Lebens¬
und Liebesmelancholie, hingegebener Sehnsuchtsträumerei mit mathematischer
Kontrolle und sezierender Vivisektion. Diese verwegene Mathematik des Herzens
gibt sich nie zufrieden, sie steigert sich selbst ihre Aufgaben, kombiniert sie immer